Teranesia
beschimpfen.
Aber die Menge applaudierte. Die Menschen standen auf und jubelten.
Amita kehrte zu ihnen zurück, setzte sich ins Gras und nahm Madhusree in die Arme. Prabir beobachtete sie mit einem seltsam losgelösten Gefühl, während er sich fragte, ob er endlich verstanden hatte, warum sie bereit gewesen war, sie in ihre Obhut zu nehmen. Sie hatte deutlich gemacht, worin ihre Vorstellung von Mitleid bestand: Sie verurteilte jede Gewalt und verhielt sich großzügig gegenüber den Opfern, doch schließlich löste sie all das ein, indem sie »Ich auch!« schrie – wie ein Kind, das um Anerkennung bettelte. Das war es, was der Tod von sechs Millionen Fremden für sie bedeutete: Es ging nicht um Trauer oder Entsetzen, sondern um Neid.
Sie lächelte ihn an, während sie Madhusree an sich drückte. »Was denkst du, Prabir?«
»Könntest du mir deine Tätowierung zeigen?«
»Wie bitte?«
»Die mit deiner KZ-Nummer.«
Amitas Lächeln verschwand. »Das ist ein sehr kindisches Humorniveau. Alles wörtlich zu verstehen.«
»Vielleicht solltest du ausnahmsweise einige Dinge tatsächlich etwas wörtlicher verstehen.«
»Vielleicht solltest du dich jetzt entschuldigen«, warf Keith streng ein.
Amita drehte sich zu ihm um. »Würdest du dich bitte heraushalten?«
Keith ballte die Hände zu Fäusten und blickte zornig auf Prabir herab. »Wir werden dir nicht auf ewig alles durchgehen lassen. Es gibt viele Institutionen, die dich übernehmen würden; es wäre gar kein Problem, es zu arrangieren.« Bevor Amita etwas erwidern konnte, stand er auf und ging fort. Er hielt sich die Ohren zu, damit er nichts mehr außer seinem Sample-Mantra hörte.
»So etwas würde ich niemals tun, Prabir«, sagte Amita. »Hör nicht auf ihn.«
Prabirs Blick ging an ihr vorbei in den traumhaft blauen Himmel. Die Angst, die durch seinen Körper schwappte, war ihm durchaus willkommen. Das ganze Problem bestand darin, dass er sich zu sicher gefühlt hatte. Er hatte sich der Illusion hingegeben, dass er irgendwo angekommen war. Jetzt würde er nie wieder vergessen, wo er in Wirklichkeit stand.
Nämlich nirgendwo.
»Es tut mir Leid, Amita«, sagte er leise. »Es tut mir Leid.«
*
»Willst du wissen, wohin Ma und Baba gegangen sind?«
Prabir stand neben Madhusrees Bett in der Dunkelheit. Er hatte hier fast eine Stunde stumm gewartet, bis sie sich irgendwann geregt und sein Anblick sie geweckt hatte.
»Ja.«
Er streckte die Hand aus und strich ihr übers Haar. Im Lager war er der Frage ausgewichen und hatte ihr nichtssagende Halbwahrheiten erzählt – »Sie können jetzt nicht hier sein«, »Sie wollen, dass ich mich um dich kümmere« –, bis sie es irgendwann aufgegeben hatte zu fragen. Die Sozialarbeiter hatten ihm geraten: »Sag nichts. Sie ist noch jung genug, um alles zu vergessen.«
Jetzt sagte er: »Sie sind in dein Bewusstsein eingegangen. Sie sind jetzt in deinen Erinnerungen.«
Madhusree bedachte ihn mit einem äußerst skeptischen Blick, aber sie schien über die Behauptung nachzudenken.
Dann sagte sie entschieden: »Sind sie nicht.«
Prabir wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Na gut, mein Klugscheißer«, sagte er. »Dann sind sie nur in meinen Erinnerungen.«
Madhusree setzte eine verärgerte Miene auf und stieß seine Hand weg. »Ich will sie auch.«
Prabir wurde allmählich kalt. Er hob sie aus ihrem Bett und trug sie zu seinem hinüber. »Sag Amita nichts davon.« Madhusree warf ihm einen Blick voller Verachtung zu, als zweifelte sie an seiner Intelligenz, weil er auch nur an diese Möglichkeit dachte.
Er sagte: »Weißt du, welchen Namen Ma hatte, bevor du geboren wurdest?«
»Nein.«
»Sie hieß Radha. Und Baba hieß Rajendra. Sie lebten in einer riesigen, überfüllten und lauten Stadt namens Kalkutta.« Dann wiederholte Prabir die Worte auf Bengali.
Er schaltete seine Nachttischlampe auf niedrigster Stufe ein, nahm dann sein Notepad vom Tisch und rief ein Bild seiner Mutter auf. Es war der Schnappschuss von der IRA-Parade, das einzige Bild, das er von ihr besaß. Er hatte es aus dem Net-Workspace gerettet, wo er es abgelegt hatte, bevor er beschlossen hatte, es nicht an Eleanor zu mailen.
Madhusree riss erstaunt die Augen auf.
»Radha wusste alles über den menschlichen Körper«, sagte Prabir. »Sie war der klügste und stärkste Mensch von ganz Kalkutta. Ihre Ma und ihr Baba besaßen ein großes, schönes Haus, aber das war ihr völlig gleichgültig.« Er scrollte das Fenster weiter,
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