Teranesia
suchte. Er zeigte Prabir den Umschlag. »Aus den Protokollen der fünfzehnten Jahreskonferenz für cyberfeministische Studien. Diesen Vortrag hat Amita dort im vergangenen Jahr gehalten, worauf die New York Times sie als ›Kanadas aufregendsten intellektuellen Kopf‹ bezeichnete.«
Er las vor: »›Der Transputer wird nur das erste Stadium einer Revolution sein, die den gesamten geschlechtsspezifischen Megatext der Technik und der Wissenschaft transformieren wird. Die nächste Hegemonie, die zusammenbrechen wird – die wegen ihrer oberfaulen Inversion längst überfällig ist –, wird die Mathematik selbst sein. Wieder einmal werden wir die Disziplin von Grund auf neu errichten müssen, um uns der mangelhaften und voreingenommenen Axiome der alten männlichen Wahrheitsmonopolisten zu entledigen und ihren starren, hierarchischen Ansatz in ein organisches, fruchtbares und spielerisches Paradigma zu überführen. Der Beweis ist tot. Die Logik ist obsolet. Die nächste Generation wird bereits in der Kindheit lernen, sich über Russells Principia lustig zu machen, am Bart von Carl Friedrich Gauß zu zupfen – und Pythagoras die Hosen herunterzuziehen!‹«
Prabir nahm Keith das Buch aus der Hand. Der Abschnitt entsprach genau dem, was er vorgelesen hatte. Und Amitas Name stand über dem Artikel.
Prabir setzte sich benommen; er konnte es immer noch nicht glauben. Als er sich im Lager an die Dinge zu erinnern versuchte, die sein Vater über Amita gesagt hatte, musste er befürchten, dass sie eine religiöse Fanatikerin war, aber in Wirklichkeit war es noch viel schlimmer. Sie stand im Gegensatz zu allem, wofür seine Eltern eingetreten waren: die Gleichheit von Männern und Frauen, die Trennung zwischen akademischer Lehre und eigenen Interessen, überhaupt die ganze Vorstellung einer unvoreingenommenen Suche nach der Wahrheit.
Und diesen Menschen hatte er Madhusree ausgeliefert.
*
Prabir hatte seiner Einschulung mit Schrecken entgegengesehen, doch am Ende der ersten Woche hatten sich all seine schlimmsten Befürchtungen als völlig unbegründet erwiesen. Die Lehrer redeten wie geistig normale Menschen, und zumindest in der ersten Klasse gab es kein Keith-und-Amita-Gefasel. Man hatte ihm sogar erlaubt, Madhusree an ihrem ersten Tag in den Kindergarten zu begleiten, wo es ähnlich harmlos zuzugehen schien. Madhusree hatte bereits im Lager mit anderen Kindern gespielt, sodass es für sie kein besonderer Schock war, erneut auf derartige fremde Wesen zu stoßen. Obwohl sie weinte, als Prabir sie am zweiten Tag allein ließ, erzählte sie später begeistert von ihren Aktivitäten.
Prabir hatte erwartet, in der Schule verprügelt zu werden, doch die anderen Schüler hielten sich auf Distanz. Als ein Junge ihn wegen seines Gesichts hänselte, flüsterte ihm ein anderer Junge etwas zu, worauf der erste verstummte. Prabir hoffte inbrünstig, dass sie nur zu wissen glaubten, was es mit seinen Narben auf sich hatte. Er hätte sich lieber auslachen lassen als zu wissen, dass diese Fremden über irgendwelche Dinge redeten, die sich auf der Insel zugetragen hatten.
In seiner Klasse gab es drei weitere Schüler, die aussahen, als hätten sie indische Eltern, doch alle sprachen mit kanadischem Akzent, und wenn Prabir in ihrer Nähe war, hatte er das Gefühl, sie würden mit noch größerem Unbehagen auf ihn reagieren als alle anderen. Amita war mit drei Jahren nach Kanada gekommen, und ihre Eltern hatten sofort aufgehört, Bengali zu sprechen, sodass sie sich kaum noch an die Sprache erinnerte. Er hatte beschlossen, dass Madhusree weiterhin zweisprachig aufwachsen sollte, aber in ihrer Gegenwart geschah es immer häufiger, dass er mitten im Satz stockte und sich plötzlich fragte, ob er sich korrekt ausgedrückt hatte. Er hätte versuchen können, Kontakt mit seinen alten Klassenkameraden aus der Netz-Schule von Kalkutta aufzunehmen, aber er schrak vor der Aussicht zurück, die Gründe für seine veränderten Lebensumstände erklären zu müssen.
In den folgenden Monaten gewöhnte er sich an die Routine: um sieben aufstehen, sich waschen und anziehen, zum Bus hetzen, die Schulstunden über sich ergehen lassen. Er fühlte sich fast wie ein Schlafwandler in einer Tretmühle.
An den Wochenenden machten sie Ausflüge. Keith nahm ihn mit zur Festivalvorführung eines Films mit dem Titel Sie küssten und sie schlugen ihn. Prabir kam hauptsächlich deswegen mit, weil es seine erste Erfahrung mit der Zelluloid-Technik war – das
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