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Teranesia

Titel: Teranesia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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bis das Bild seines Vaters erschien. Madhusree schien sich einigermaßen an den Anblick metallgespickter Haut gewöhnt zu haben, aber sie beugte sich trotzdem vor, um Rajendras Gesicht zu studieren, das leichter wiederzuerkennen war als das ihrer Mutter. »Also verliebte sie sich in Rajendra, der gar nichts besaß, aber genauso klug und stark wie Radha war. Und er verliebte sich auch in sie.«
    Ich mache es kaputt, dachte Prabir. Er wollte ihr keine Geschichten in den Kopf setzen, die zuckersüß wie Märchen waren. Er konnte immer noch die Hände seines Vaters spüren, wie er ihn emporhob. Er konnte immer noch die Stimme seiner Mutter hören, die ihm sagte, dass sie zur Insel der Schmetterlinge unterwegs waren. Wie konnte er sie für Madhusree jemals wieder wirklich werden lassen?
    Madhusree schien inzwischen genauer über Radhas Bild nachgedacht zu haben. »Warum weint sie nicht?«
    Prabir legte die Finger an die Wange. »Hier gibt es eine Stelle, wo kaum Nervenenden vorhanden sind.« Er hatte einen virtuellen Körper aus dem Netz darauf untersucht. »In deiner Haut sind viele winzige Fäden, die den Schmerz spüren, aber wenn du sie nicht berührst, tut es auch nicht weh.«
    Madhusree schien an seinen Worten zu zweifeln.
    In der Küche gab es Fleischspieße. Er könnte einen in der Gasflamme sterilisieren oder ein Desinfektionsmittel aus dem Arzneischränkchen benutzen. Als er sich vorstellte, die Metallspitze durch seine Haut zu bohren, krampfte sich sein Magen zusammen. Es hätte ihn nicht so sehr gestört, wenn eine andere Person dieses Kunststück an ihm vollführte – es konnte kaum schlimmer sein als die Injektionen, mit denen man das vernarbte Gewebe in seinem Gesicht aufgelöst hatte –, aber die Aussicht, sich selbst Gewalt anzutun, war ernüchternd.
    Seine Mutter hatte es getan. Es war kein Märchen, denn ihm lag der eindeutige Beweis vor. Es ging nur darum, genau zu verstehen, was man tat.
    Dann sagte er: »Ich werde es dir zeigen.« Er stellte das Notepad auf sein Kissen und stieg aus dem Bett. »Aber nur die Wangen, nicht die Zunge. Und wenn du älter bist, musst du mir helfen, den Wagen zu ziehen.«
    Madhusree ging niemals leichtfertig eine Verpflichtung ein, sondern betrachtete erneut das Bild ihres Vaters. Prabir beugte sich über sie. »Schau dir ihre Gesichter an. Sie würden doch nicht lächeln, wenn es schmerzen würde, oder?«
    Madhusree dachte über die Stichhaltigkeit dieses Arguments nach, dann nickte sie ernst.
    »Okay.«



6
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    Prabir arbeitete länger, um ein Projekt fertig zu stellen, damit es ihm nicht während des ganzen Wochenendes durch den Kopf ging. Es war nichts Ungewöhnliches, aber es gab ein paar kleinere Probleme, die seine Konzentration erforderten. Die Zeit flog nur so dahin, während er sich in Einzelheiten verlor. Doch als er fertig war, stürmte er nicht gleich mit reinem Gewissen zu den Fahrstühlen, um die Bank vorübergehend aus seinem Bewusstsein zu streichen, sondern saß noch fünfzehn Minuten lang apathisch da und starrte auf die menschenleeren Reihen der Schreibtische.
    Er wandte sich wieder seiner Workstation zu und ließ noch einmal die Tests des Kreditkarten-Plugins ablaufen. Es war ein standardmäßiges anthropomorphisierendes Programm, ein ›Investmentberater‹, dessen Stimme und Aussehen auf das psychologische und kulturelle Profil des Kunden zugeschnitten war. Seine Aufgabe bestand darin, Vorschläge zu machen, mit welchen finanziellen Instrumenten ein Geldtransfer durchgeführt werden konnte, doch in erster Linie war es ein Werbegag. Wer ernsthaft die Möglichkeiten des Marktes nutzen wollte, musste sich mit wesentlich ausgefeilteren Werkzeugen ausstatten und wissen, wie man damit umging. Wer dagegen seine Zeit nicht damit vergeuden wollte, zum Experten zu werden, fuhr wesentlich besser, wenn er sich auf die Standardalgorithmen der Bank verließ, die auf ein geringes Risiko programmiert waren. Und genau das taten die meisten Menschen. Doch die Bank hatte ein demographisches Kundenpotenzial identifiziert, das sich für derartige Neuigkeiten begeistern konnte: die Illusion, dass die Technik unablässig für sie arbeitete, sie jedoch nur mit den reinen Fakten konfrontierte, zwischen denen sie schließlich entscheiden konnten.
    Jede Arbeit hatte ihren Wert. Selbst diese. Doch als Prabir die Auswahl der sechzehn Muster-Berater beobachtete, die tadellos auf ein Sperrfeuer aus Testdaten reagierten, kam er sich plötzlich müde und lächerlich vor, als

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