Teranesia
zehnjährige Schwester mit Männern schlief, befand sich keineswegs in der sichersten Position. Er hatte von anerkannten, respektablen schwulen Paaren gehört, die sich das Sorgerecht vor Gericht erkämpft hatten, aber seine eigene Situation war damit nicht einmal ansatzweise vergleichbar. Und wenn er sich vorstellte, dass er durch seine ersten unbeholfenen Versuche, einen Partner zu finden, vielleicht nicht nur Madhusree verlor, sondern all das auch noch vor Gericht zur Sprache kam, dann wäre er fast verzweifelt.
Die Gefahr schien ein wenig nachgelassen zu haben, seit Madhusree einige Jahre älter war, aber dennoch war Prabir nicht bereit, freiwillig ein Risiko einzugehen. Als sie achtzehn geworden war und keine Gefahr mehr drohte, dass man sie ihm wegnahm, hatte Prabir sich so sehr ans Zölibat gewöhnt, dass er gar keine klare Vorstellung mehr hatte, wie er diesen Zustand beenden sollte. Er war acht Jahre lang kaum unter Menschen gewesen, nicht nur weil er zu Anfang vermeiden wollte, Madhusree mit Babysittern allein zu lassen, sondern auch, weil ihm das Verhalten seiner damaligen Schulkameraden und Arbeitskollegen keine andere Wahl zu lassen schien, entweder so zu tun, als wäre er hetero, oder das Schicksal herauszufordern. Als es nichts mehr gab, das ihn zurückgehalten hätte, fühlte er sich zum zweiten Mal wie ein Fremder, der soeben in dieses Land gekommen war. Er wusste, dass er problemlos die Schwulenbars und Nachtclubs finden würde, die in jedem Reiseführer verzeichnet waren, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass er sich in dieser Welt heimisch fühlen würde – genauso wenig wie irgendwo sonst.
Felix knöpfte sein Hemd auf. Prabir kam wieder zu sich und wich zurück. »Was machst du da?«, flüsterte er. »Sie ist direkt nebenan.«
»So?« Felix lachte. »Irgendwie glaube ich nicht, dass deine Schwester ein Problem mit uns hat.« Immerhin war es Madhusree gewesen, die sie miteinander bekannt gemacht hatte. »Und ich hatte nicht vor, dir sämtliche Kleider vom Leib zu reißen, bevor wir dein Schlafzimmer erreicht haben.«
»Ich meine es ernst. Sie arbeitet.«
»Ich kann sehr leise sein.«
»Wenn wir leise sind, machen wir uns noch verdächtiger!«
Felix schüttelte den Kopf; er war eher belustigt als verärgert.
»Erzähl mir nicht«, protestierte Prabir, »dass es einen nicht von der Arbeit ablenkt, wenn man weiß, dass nur zehn Meter entfernt zwei Menschen Sex miteinander haben. Am Montag schreibt sie eine Klausur in Kladistik.«
»Deshalb hat Darwin die Sonntagnachmittage erfunden. Hör mal, ich habe mein ganzes Studium absolviert, während ich mit sechs weiteren Studenten zusammenlebte. Ich wurde täglich vierundzwanzig Stunden lang mit Gestöhn in Quadrophonie berieselt. Madhusree kann sich glücklich schätzen.« Felix streckte sich behaglich auf der Couch aus.
»Es tut mir ja Leid, dass du deine Studentenjahre in einer Lasterhöhle verbringen musstest, aber ich betrachte es nicht als meine Aufgabe, ihre Persönlichkeitsentwicklung zu behindern. In ihrer eigenen Wohnung hat sie das Recht auf Ruhe, wenn sie Ruhe braucht.«
Felix sagte nichts. Er starrte auf den Fernseher.
»Wenn du mich in der Bank angerufen hättest«, sagte Prabir, »hätten wir uns bei dir treffen können.«
Felix hielt weiterhin den Mund. Offenbar wollte er den Streit nicht ausufern lassen. Er strich sanft mit der Hand über Prabirs Unterarm, eine Geste, die gleichzeitig beschwichtigend und erotisch war, doch Prabir war nicht gewillt, das Thema auf sich beruhen zu lassen. »Gib wenigstens zu, dass ich keinen Unsinn rede«, sagte er.
Madhusree kam aus ihrem Zimmer. »Hallo Felix!« Sie beugte sich über die Couch und küsste ihn auf die Wange, dann wandte sie sich an Prabir. »Ich gehe aus. Wartet nicht auf mich.«
»Wohin gehst du?«
»Ich will nur mal raus und ein paar Freunde treffen.«
»Das klingt gut.« Prabir versuchte, mehr aus ihrer Kleidung zu erraten, aber er war nicht mehr mit den gültigen Codes vertraut. Seiner Einschätzung nach hätte sie genauso zu einem diplomatischen Empfang in einem Fünf-Sterne-Hotel wie zu einem Treffen von Hooligans unterwegs sein können.
»Viel Spaß!«, sagte er.
Sie lächelte ihn an, dir auch, dann winkte sie Felix zum Abschied zu.
Als sie gegangen war, tat Felix, als würde er sich für das Fernsehprogramm interessieren. Im Zeitgeist-Kanal – ein Filterprogramm, das automatisch das zeigte, was gerade von den meisten Menschen in der Stadt gesehen wurde –
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