Teranesia
Archipel standen zehn Millionen Menschen vor dem Hungertod. Er konnte sich nicht beklagen – außer über den einzigen Verlust, den ihm niemand ersetzen konnte. Amita stellte ihnen nicht nur Essen, Kleidung und Unterkunft zur Verfügung, sie überschüttete Madhusree mit unendlicher Zuneigung und Zärtlichkeit; für ihn hätte sie dasselbe getan, wenn er nicht vor ihrer Berührung zurückgeschreckt wäre.
Mit der Zeit schämte sich Prabir beinahe für seinen mangelnden Respekt vor Amita und begann sich zu fragen, ob seine Sorgen um Madhusree vielleicht völlig unbegründet waren. Amita hatte niemals versucht, ihn mit ihren bizarren Theorien zu infiltrieren, und möglicherweise konnte auch Madhusree sich frei eine eigene Meinung bilden.
Vielleicht war Amita wirklich harmlos.
*
Im Sommer 2014 fragte Amita ihn, ob er sie zu einer Demonstration begleiten wollte, die als Reaktion auf eine Serie rassistisch motivierter Schlägereien veranstaltet wurde und auf der sie eine Rede halten sollte. Prabir sagte zu und fühlte sich angenehm überrascht, dass Amita doch nicht so weit von der Wirklichkeit entfremdet war, wie er befürchtet hatte, während sie im Elfenbeinturm der Universität mit Nostromo- Comicsden Kolonialismus bekämpfte und durch den sinnlosen Austausch von Bits das Patriarchat unterminierte. Wenigstens hier tat sie einmal etwas, auf das er unzweideutig stolz sein konnte.
Die Demonstration fand an einem Sonntag statt; sie marschierten unter einem wolkenlosen Himmel durch Toronto. Prabir liebte den Sommer in Toronto; die Sonne legte zwar nur zwei Drittel des Weges bis zum Zenit zurück, aber zum Ausgleich war der Weg länger. Keith schien die zweiunddreißig Grad für glühende Hitze zu halten; als sie den Park erreichten und sich ins Gras setzten, öffnete er den Picknickkorb, den sie mitgenommen hatten, und leerte mehrere Bierdosen.
Vor zweitausend Menschen betrat Amita das Podium. Prabir zeigte auf sie, damit Madhusree sie sah. »Schau! Da ist Amita! Sie ist berühmt!«
Amita begann: »Wir haben uns heute hier versammelt, um dem Rassismus eine klare Absage zu erteilen, aber ich glaube, dass die Zeit mehr als reif ist, um die Öffentlichkeit mit einer differenzierteren Analyse dieses Phänomens vertraut zu machen. Meine Forschungen haben gezeigt, dass jede Form der Antipathie gegen Menschen anderer Kulturen in Wirklichkeit nichts anderes als die Projektion einer viel allgemeineren Form der Unterdrückung darstellt. Eine sorgfältige Untersuchung der Sprache, die im Deutschland der 1930er Jahre benutzt wurde, um die Juden zu charakterisieren, offenbart ein verblüffendes Ergebnis, das für mich jedoch keineswegs überraschend ist. Jeder Begriff, der zur rassistischen Verunglimpfung benutzt wurde, war gleichzeitig eine Form der Feminisierung. Was schwach ist, was träge ist, was nicht vertrauenswürdig ist – was im Patriarchat das Andere repräsentiert –, all das kann letztlich nur die Frau sein.«
Wenn die Nazis triumphiert hätten, so erklärte Amita, wären ihnen schließlich die Behelfsgegner ausgegangen, worauf sie ihre eigentlichen Feinde – die deutschen Frauen – in die Gaskammern geschickt hätten. »Lassen Sie sich nicht von all den Riefenstahl-Mädchen irritieren; der wahre Hintergrund sämtlicher Nazi-Propaganda war stets die Verherrlichung männlicher Kraft und männlicher Schönheit. Im Tausendjährigen Reich wären Frauen nur zum Zweck der Fortpflanzung geduldet worden – und nur so lange, bis man sie durch eine technische Alternative überflüssig gemacht hätte. Nachdem sie ihre letzte überlebenswichtige Rolle verloren hätten, wären auch sie in den Gaskammern verschwunden.
Der Grund, dass ich aufgefordert wurde, hier und heute zu Ihnen zu sprechen, ist die Farbe meiner Haut und das Land meiner Geburt. Es ist wahr, dass diese Dinge mich zu einem Opfer machen. Aber wir alle wissen, dass das Ausmaß der Gewalt gegen kanadische Frauen viel größer ist als gegen alle ethnische Minderheiten zusammengenommen. Also stehe ich hier vor Ihnen und sage: Als Frau war auch ich in Belsen, als Frau war auch ich in Dachau, als Frau war auch ich in Auschwitz!«
Prabir rechnete fest damit, dass es zum Aufruhr kam oder dass sie zumindest von irgendjemand niedergebrüllt wurde. In der Menge gab es doch bestimmt Kinder oder Enkelkinder von Menschen, die den Holocaust überlebt hatten. Und selbst wenn es keine gab, musste doch irgendjemand den Mut aufbringen, um sie als ›Ketzerin!‹ zu
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