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Teranesia

Titel: Teranesia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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lief eine nichtssagende Bürokomödie. »Habe ich dir schon mal erzählt«, sagte Prabir, »dass meine Pflegeeltern eine zehntausendseitige akademische Arbeit mit dem Titel Wechselseitige Hintergrundreferenzen in Sitcoms als Zeichen des Sakralen verfasst haben?«
    Felix taute auf. »Wer hat das veröffentlicht? Social Text?«
    »Woher wusstest du das?«
    Im Schlafzimmer sagte Felix: »Hättest du Lust, mir den visuellen Cortex zu massieren?« Prabir kniete sich über ihn und zog ihm behutsam das Elektrodenpflaster vom Rücken. Die Haut darunter war etwas blass, aber sie war nicht wächsern wie unter einem Gipsverband oder einer Bandage. Das Polymer ließ genügend Sauerstoff hindurch. Felix behauptete, dass er das zwanzigtausend Dollar teure Gerät zusammen mit seinen Hemden in der Waschmaschine reinigte, aber Prabir hatte es niemals miterlebt.
    Als Felix im Jahr 2006 mit missgebildeter Netzhaut geboren wurde, gab es bereits die ersten künstlichen Prothesen. Doch damals bestand noch keine Möglichkeit, die Anordnung der Photosensoren direkt mit dem Gehirn zu verdrahten. Stattdessen verarbeiteten die Schaltkreise Signale aus den Augen und stimulierten über die Elektroden die Nerven im Rücken. Seit frühester Kindheit war er es gewohnt, diese Empfindungen als Bilder zu interpretieren.
    Prabir begann ihn vorsichtig zu kneten. »Du kannst ruhig etwas kräftiger zupacken«, sagte Felix. »Ich bin dort nicht hypersensitiv. Es ist nur ganz normale Haut.«
    »Aber… fühlst du meine Hände oder siehst du etwas?«
    »Beides.«
    »Aha? Und was siehst du?«
    »Abstrakte Muster. Punktreihen, Sternenexplosionen. Aber es sind nur schwache und nicht sehr überzeugende Eindrücke. Bei der Massage geht es darum, Empfindungen zu bekommen, die stark genug sind, um als Berührungen und nicht als Bilder zu wirken, damit die ursprüngliche Funktion der Nerven nicht verloren geht.«
    Prabir hatte im Netz Software gefunden, mit der sich das Bild einer Kamera in etwas transformieren ließ, das mit der Information vergleichbar war, die von den Elektroden vermittelt wurde. Die impressionistische Monochrom-Version seines eigenen Gesichts war kaum noch als Gesicht erkennbar gewesen, aber Felix war in der Lage, Menschen aus fünfzig Metern Entfernung zu identifizieren. Die Erfahrung war der entscheidende Punkt. Seit etwa fünf Jahren war es möglich, die künstliche Retina durch eine Operation direkt mit dem Gehirn zu verbinden, aber für ihn wäre es genauso schwierig gewesen, mit dieser neuen Art des Sehens zurecht zu kommen, wie für Prabir, sich an die Elektroden auf dem Rücken zu gewöhnen.
    Prabirs Hände schweiften ab. Nach einer Weile drehte sich Felix auf den Rücken und zog Prabir an sich. Als sie sich küssten, spürte Prabir eine Wärme, die sich wie flüssiges Feuer in seinen Adern ausbreitete, und sein Brustkorb schien zusammengepresst zu werden, als hätte ihm ein erstaunlicher Anblick den Atem geraubt. Das war es, wonach er strebte – mehr als nach dem eigentlichen Sex. Er hatte dafür kein Wort: Es war viel zu körperlich für reine Zärtlichkeit und viel zu zärtlich für reine Begierde.
    »Weißt du, was mir am meisten daran gefällt, wenn wir zusammen sind?«, fragte er.
    »Nein.«
    »Unser gemeinsamer Diebstahl.« Prabir zögerte, weil er befürchtete, es könnte zu dumm klingen. Aber wenn er jetzt nicht darüber sprechen konnte, wann dann? »Sex ist wie ein Diamant, der in einem Schlachthaus geschmiedet wurde. Drei Milliarden Jahre der unbewussten Reproduktion. In der nächsten halben Milliarde die ungeplante Entstehung von Tieren, die nicht nur ihrem Trieb folgten, wenn sie sich paarten, sondern die Spaß daran hatten – und schließlich wussten, dass sie Spaß hatten. In Millionen Jahren verfeinerten sie diese Empfindung und machten sie zur vollkommensten Sache der Welt. Und all das nur, weil es einfach funktionierte. Und nur weil dadurch immer wieder dasselbe hervorgebracht wurde.« Er griff nach Felix’ Penis und schloss seine Hand darum. »Jeder kann sich diesen Diamanten nehmen; es ist so einfach. Aber er ist für uns kein Köder, keine Bestechung. Wir haben den Schatz gestohlen, wir haben ihn losgerissen. Wir können damit tun, was wir wollen.«
    Felix schwieg eine Weile und lächelte ihn nur an. Dann fragte er: »Weißt du, was eine Aue ist?«
    »Nein.«
    »Wenn ein Fluss in einer engen Schleife fließt, wird dieser Arm manchmal vom Hauptstrom abgeschnitten. Dann bildet der Fluss eine Aue. Damit habe ich es

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