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Teranesia

Titel: Teranesia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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nicht verminderten, sondern sogar noch zu streuen schienen. Der Februar war hier der Höhepunkt der Regenzeit, genauso wie im größten Teil des ehemaligen Indonesien, aber das bedeutete nicht, dass für Madhusrees Expedition ein ungünstiger Zeitpunkt gewählt worden war. Auf den Molukken herrschten umgekehrte Monsun-Jahreszeiten, sodass dort nun musim teduh herrschte, die ruhige Saison, die beste Reisezeit.
    Der Flug nach Ambon ging erst am nächsten Morgen. Prabir schulterte seinen Rucksack und lief los; er ignorierte den Bus, der darauf wartete, die Passagiere ins Stadtzentrum zu bringen. Wenn er das Hotel erreichte, würde er vermutlich sofort einschlafen, aber wenn er sich bis zum Abend wach halten konnte, würde er den nächsten Tag ausgeruht und ohne Jetlag beginnen können. Da er sechs Stunden totschlagen musste und kein Interesse an einem Schaufensterbummel hatte, bestand die einfachste Methode, die er sich vorstellen konnte, um die Langeweile zu bekämpfen, in einem Fußmarsch durch die Stadt. Sein Notepad hatte bereits eine Straßenkarte geladen, sodass keine Gefahr für ihn bestand, sich zu verlaufen.
    Er verließ das Flughafengelände in nördlicher Richtung und kam an Sportplätzen und einem Friedhof vorbei, bis er eine ruhige tropisch-grüne Vorstadt erreichte. Zuerst war es ihm unangenehm, wenn er anderen Fußgängern begegnete – da die Größe seines Rucksacks ihn eindeutig als Touristen auswies –, aber niemand würdigte ihn eines zweiten Blickes. Es fühlte sich gut an, die Beine bewegen zu können; sein Gepäck war nicht schwer, und selbst die surreale Hitze war eher ein Erlebnis als eine Unannehmlichkeit.
    An diesen friedlichen, von Palmen gesäumten Straßen gab es nichts, das ihn an das zweitausend Kilometer entfernte Flüchtlingslager erinnerte, doch als er an einem Gebäude vorbeikam, das nach einer Grundschule aussah, fiel ihm wieder ein, wie seine Eltern darüber gesprochen hatten, ihn vielleicht in Darwin zur Schule zu schicken. Wenn sie sich für diese Möglichkeit entschieden hätten, wäre er hier vom Krieg unbehelligt geblieben. Warum war es anders gekommen? Hatte er sie irgendwie davon abgebracht? Hatte er mit einem Wutanfall darauf reagiert? Er wusste es nicht mehr.
    Dann begann der nachmittägliche Wolkenbruch, aber die Bäume am Straßenrand boten ausreichend Schutz, und sein Rucksack war wasserdicht. Er lief weiter nach Norden, weg vom Hotel. Der erdige Geruch, der während des Regens die Luft erfüllte, löste in ihm das Gefühl verzweifelter Sehnsucht aus, eine Art Heimweh, aber er war sich nicht sicher, ob das Gewitter ihn an Kalkutta, an die Insel oder einfach an Darwin erinnerte.
    Die Antwort erschloss sich ihm wenige Minuten später, als die Straße vor einem Krankenhaus endete. Er stand im Regen und starrte auf den Eingang. Er hätte das Gebäude niemals durch den bloßen Anblick wiedererkannt, aber er wusste genau, dass er schon einmal hier gewesen war.
    Seine Mutter hatte acht oder neun Stunden lang in den Wehen gelegen, die mitten in der Nacht eingesetzt hatten. Man hatte ihn irgendwo zu Bett gebracht, weit genug vom Kreißsaal entfernt, um keinen Laut mehr hören zu können. Er war mit der Vermutung – und einer Mischung aus Bedauern und Dankbarkeit – eingeschlafen, dass er nun alles verpassen würde. Doch am Morgen hatte sein Vater ihn geweckt und gefragt: »Willst du sehen, wie deine Schwester geboren wird?«
    Die Heftigkeit des Geburtsvorgangs hatte ihn zermürbt, doch selbst die Qualen seiner Mutter hatten ihn nicht gänzlich vom seltsamsten Aspekt dessen, was er miterlebte, ablenken können. Zwei Zellen, die sich mühelos wie Hautschuppen von den Körpern seiner Eltern abgelöst hatten, war es tatsächlich gelungen, zu einem völlig neuen menschlichen Wesen heranzuwachsen. Dass sich dieser Vorgang tief im Innern seiner Mutter abgespielt hatte, war für sie zweifellos von nicht geringer Bedeutung, doch was einen viel tieferen Eindruck auf Prabir machte als die Erkenntnis, dass er unter denselben dramatischen Umständen auf die Welt gekommen war, war die Einsicht, dass auch er sich nur aus Luft, Nahrung und Erbgut aufgebaut hatte, genauso wie dieses Kind, das sich vor seinen Augen Monat um Monat auf der Insel entwickelt hatte.
    Er hegte schon seit langem keine Zweifel mehr an den Schilderungen seiner Eltern, wie er entstanden war. Er war keineswegs nur ein Ballon in der Gestalt eines Kindes, der sich durch Nahrungsaufnahme aufblähte. Stattdessen wuchs er eher

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