Teranesia
so, wie eine Stadt wuchs, deren Gebäude und Straßen immer wieder abgerissen und neu aufgebaut wurden. Mit Hilfe einer gigantischen Sammlung von Schablonen wurden in ihm die Moleküle, die aus den Fragmenten jeder verdauten Mahlzeit gewonnen wurden, zur Reparatur, Rekonstruktion und Erweiterung seines Körpers genutzt. Riesige Flotten mikroskopisch kleiner Kuriere bewegten sich an kristallinen Gerüsten entlang, schwammen durch Flüsse, die dicker als Sirup waren, und passierten bewachte Portale, um neues Baumaterial an die Stellen zu schaffen, wo es gebraucht wurde.
All diese Dinge waren erstaunlich und beunruhigend, aber er war immer davor zurückgeschreckt, die logische Schlussfolgerung aus den Tatsachen zu ziehen. Erst als Madhusree zum Vorschein gekommen war, als sie verständnislos in einen Raum voller Gesichter und Lichter gestarrt hatte, an den sie sich niemals erinnern würde, erst da hatte Prabir endlich über den Punkt hinausgeblickt, an dem sich seine Erinnerungen verflüchtigten. Was er nun aus erster Hand über sie erfahren hatte, galt genauso für ihn selbst: Es hatte eine Zeit gegeben, in der er nicht existiert hatte. Er war Luft und Wasser gewesen, Pflanzen und Dünger, eine Wolke anonymer, über Indien, über den gesamten Planeten verstreuter Atome. Selbst die Gene, die für seine Konstruktion benutzt wurden, waren bis zum letzten Moment auf zwei andere Körper verteilt gewesen, wie die Hälften einer zerrissenen Piratenkarte, die eine Insel zeigte, die erst noch erschaffen werden sollte.
Als seine Mutter das Kind in den Armen gewiegt hatte, war sein Vater neben dem Bett in die Knie gegangen, hatte beide geküsst, hatte gelacht und geschluchzt, war vor Glück berauscht gewesen. Prabir hatte es erleichtert, dass seine Mutter nun keine Qualen mehr erleiden musste, und obwohl er gebannt seine neugeborene Schwester bewundert hatte, hielt ihn das nicht von der Frage ab, was sie eigentlich getan hatte, um sich all diese Zuneigung zu verdienen. Nichts, was er nicht ebenfalls getan hätte. Und daran würde sich nie etwas ändern: Ganz gleich, wie prächtig sie sich entwickelte, er besaß einen viel zu großen Vorsprung, als dass sie ihn jemals einholen könnte. Seine Stellung war unanfechtbar.
Sofern er nicht von falschen Voraussetzungen ausging. Er hatte sich immer eingebildet, dass er sich irgendwie die Liebe seiner Eltern verdient hatte, aber was war, wenn die Aufnahme seiner Schwester Beweis dafür war, dass man das Leben nicht als unbeschriebenes Blatt begann, sondern mit einer Art tadellosem Zeugnis, das im Verlauf der Zeit nur schlechter werden konnte? In diesem Fall konnte er nur hoffen, dass er nicht zu weit abrutschte, während er darauf wartete, dass sie genauso tief fiel.
Sofort schämte er sich wegen dieser Gedanken, und obwohl dadurch seine Eifersucht nicht gemindert wurde, beschloss er in diesem Moment, Madhusree niemals darunter leiden zu lassen. Wenn seine Eltern sie auch in Zukunft bevorzugten – nachdem der verständliche Gefühlsdunst im Gefolge der Geburt verflogen war –, wäre das einzig und allein die Schuld seiner Eltern. Es war offensichtlich, dass Madhusree keinen Anteil daran hatte.
Neunzehneinhalb Jahre später war sich Prabir nicht sicher, dass ihm damals im Kreißsaal wirklich solche Gedanken durch den Kopf gegangen waren. Er hegte ein gewisses Misstrauen gegenüber Erinnerungen an plötzliche Erleuchtungen oder Erkenntnisse; es war wahrscheinlicher, dass er im Verlauf mehrerer Monate zu diesen Schlussfolgerungen gelangt war und sie dann seinen Erinnerungen an die Geburt aufgepfropft hatte. Dennoch war ihm die Vorstellung zuwider, dass er so berechnend und selbstgefällig gewesen sein könnte, auch wenn es absurd war, sich selbst mit diesen erwachsenen Maßstäben zu beurteilen. Und in einer Hinsicht konnte er nicht einmal behaupten, dass er sich wesentlich über diese kindliche Perspektive hinausentwickelt hatte, denn er war immer noch nicht in der Lage, die Gründe für die Liebe seiner Eltern zu verstehen.
Ein Aspekt dagegen schien überhaupt nichts Mysteriöses an sich zu haben: Die Sorge um die eigenen Kinder war genauso unentbehrlich wie jeder andere Fortpflanzungs- oder Überlebenstrieb. Es mochte ein schwerer Kampf sein, eine Familie zu gründen, genauso schwierig wie die Suche nach Nahrung oder einem Partner, aber das Endresultat war genauso unzweideutig befriedigend wie Essen oder Sex und genauso offensichtlich richtig wie Atmen.
Das einzige Problem bestand
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