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Teranesia

Titel: Teranesia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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nur darin, dass es Unsinn war. Selbst wenn man die gewaltige Zahl jener Eltern, die dieses Ideal nicht einmal annähernd erfüllten, als Verirrungen abschrieb, war es so, dass niemand bedingungslos liebte. Kinder konnten durch ihr Verhalten Gunst gewinnen oder verlieren, genauso wie jeder andere Fremde. War die Möglichkeit der Zurückweisung von der natürlichen Auslese verfeinert worden, um die Überlebenschancen des Kindes zu verbessern, um ihm einen angemessenen Moralcodex einzuprägen? Oder war es in Wirklichkeit viel subtiler? Menschliche Eltern waren mehr als ein Bündel zuckender Reflexe; sie machten sich ihre Entscheidungen keineswegs leicht. Dennoch konnte man so lange hin und her überlegen, wie man wollte, um ein kunstvolles Geflecht der Konsequenzen zu entwerfen, die sich vermeiden ließen, wenn man nicht übereilt handelte – am Ende musste man trotzdem entscheiden, was richtig war; und der Prüfstein für dieses Urteil war genauso elementar wie irgendeine spontane Entscheidung.
    Felix hätte ihm gesagt, dass all das gar keine Rolle spielte – ganz gleich, wie faszinierend es sein mochte, rein wissenschaftlich betrachtet. Schlussendlich waren wir das, was wir waren, und es spielte wirklich keine Rolle, wie wir dazu geworden waren. Doch diese Erkenntnis taugte nicht als tröstliches Mantra, wenn man gerade um den halben Planeten gereist war, ohne genau zu wissen, warum man es getan hatte. Prabir hatte sich mit seiner Unfähigkeit abgefunden, die Ängste wegzuerklären, die er empfand, wenn er daran dachte, dass Madhusree auf die Insel zurückkehrte. Auch wenn seine Befürchtungen in keinem Verhältnis zu realen Gefahren, die ihr dort drohten, stehen mochten, konnte niemand von ihm erwarten, dass er die Vergangenheit so mühelos abschüttelte. Aber er wusste nicht einmal genau, welche Befürchtungen oder welche Instinkte Teranesia zu einem so mächtigen Angelpunkt machten. Versuchte er immer noch, seinen Eltern zu beweisen, wie hingebungsvoll er war? Seine Erinnerung an sie hatte ihm immer als Anleitung gedient – und wenn er sich vorgestellt hatte, dass sie ihm zustimmten, war das immer ein zuverlässiges Zeichen gewesen, dass er richtig gehandelt hatte –, aber er glaubte nicht, dass er Madhusree zu einer Schachfigur in einem Spiel reduziert hatte, das er mit den Geistern in seinem Kopf austrug. Noch weniger konnte er akzeptieren, dass alles, was sie beide betraf, nur um die obskure genetische Tatsache kreiste, dass sie der einzige lebende Mensch war, der die künftige Weiterexistenz der Hälfte seiner Gene sichern konnte. Madhusree war nicht nur seine Schwester, sondern seine älteste Freundin und loyalste Verbündete. Warum machte er also nicht ein paar Wochen Urlaub von einem Job, den er ohnehin hasste, um in einer gefährlichen Gegend seine schützende Hand über sie zu halten?
    Prabir kehrte dem Krankenhaus den Rücken und machte sich auf den Rückweg zur Stadt. Auch wenn er sie geliebt, bewundert und respektiert hätte, wenn sie sich erstmals unter Amitas Dach begegnet wären – wenn Madhusree aus einer ganz anderen Familie adoptiert worden wäre und selbst wenn sie bei der ersten günstigen Gelegenheit mit ihm aus dem Irrenhaus geflohen wäre – so war er sich dennoch fast sicher, dass er in diesem Fall niemals bereit gewesen wäre, ihr bis nach Teranesia zu folgen.
    *
    Prabir war schon einmal mit dem Flugzeug in Ambon eingetroffen, aber er hatte daran keine klare Erinnerung mehr. Diesmal war es zumindest erstaunlich offensichtlich – im Gegensatz zur Annäherung über das Meer mit der Fähre –, dass die nebelverhangene Insel in Wirklichkeit aus zwei deutlich voneinander unterscheidbaren Vulkankomplexen bestand, die sich in jüngster geologischer Vergangenheit durch einen Isthmus aus Schwemmsand verbunden hatten. Ambon Harbour war der größte Teil dessen, was früher einmal die Meeresstraße zwischen den separaten Inseln gewesen war; würde die Bucht nur ein wenig tiefer ins Land schneiden, hätte sie bis zur anderen Seite gereicht.
    Der Flughafen Pattimura lag an der nordwestlichen Küste der Bucht, Ambon City befand sich zehn Kilometer östlich davon. Prabir beobachtete, wie ein mit Passagieren und Gepäck überladenes Schnellboot das Wasser überquerte, und beschloss, den längeren Weg rund um die Bucht zu nehmen.
    Während er an der Straße auf den Bus wartete, fühlte er sich auf ganz andersartige Weise befangen als in Darwin. Er hatte die irrationale Befürchtung, jemand könnte

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