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Teranesia

Titel: Teranesia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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studieren, weil sie gar nicht da wären, nicht wahr? Ihre Bewunderung dürfte sich in Grenzen halten, wenn Sie die dreißig Prozent aller menschlichen Embryos betrachten, deren Chromosomenschäden so gravierend sind, dass sie sich nicht einmal in den Uterus einnisten können. Jeder Überlebende hat eine komplexe Lebensgeschichte, die in der Rückschau einfach erstaunlich wirken muss. Meine Vorstellung von Schönheit hat nichts mit Überlebenschancen zu tun. Von all den Dingen, die die Evolution geschaffen hat, hege ich die größte Wertschätzung für jene, die sie mühelos zu Tode quetschen könnte, wenn sie sich das nächste Mal im Schlaf herumwälzt. Wenn ich in der Natur etwas Bewundernswertes finde, möchte ich es mir am liebsten schnappen und sofort wegrennen. Um es zu kopieren, zu verbessern, um es mir anzueignen. Denn ich bin der Einzige, der es so schätzt, wie es ist. Der Natur ist es nämlich scheißegal.«
    Grant erwiderte sachlich: »Die Evolution braucht sehr viel Zeit, bis sie sich im Schlaf herumgewälzt hat. Ich mache mir wesentlich größere Sorgen, dass die Dinge, die ich bewundere, von Menschen zerstört werden, denen das alles scheißegal ist.«
    »Ja.« In diesem Punkt konnte er ihr nicht widersprechen. Prabir kam sich dumm vor, weil er sich hatte gehen lassen. »Ich könnte jetzt etwas zu essen machen«, sagte er, »falls Sie genauso hungrig sind wie ich. Was meinen Sie?«
    *
    Der Anblick des offenen Meeres hatte auf Prabir eine seltsam beruhigende Wirkung. Nicht etwa, weil es weniger oder nicht so schmerzhafte Erinnerungen weckte wie Darwin oder Ambon; eher im Gegenteil. Aber es hatte etwas Tröstliches, dass er endlich in den Zustand geriet, in dem er sich seit so langer Zeit im übertragenen Sinne gewähnt hatte. Er hatte niemals das Ziel erreicht, das er Madhusree versprochen hatte: die Insel, auf der ihre Eltern sie erwarteten. Nach achtzehn Jahren war er immer noch unterwegs.
    Grant gesellte sich auf Deck zu ihm. Sie strahlte übers ganze Gesicht, als hätte sie den Verstand verloren. Anscheinend merkte sie ihm an, dass er sich insgeheim darüber amüsierte, denn sie erklärte: »Ich weiß, aber ich kann nichts dagegen machen. Ein solcher Himmel lässt mein armes Herz singen. Ich schätze, ich habe als Kind unter Sonnenlichtmangel gelitten, und wenn ich einmal eine kräftige Dosis abbekomme, will mein Gehirn mich darauf konditionieren, diesen Zustand so lange wie möglich auszukosten.«
    »Sie müssen sich nicht dafür entschuldigen, dass Sie glücklich sind«, sagte Prabir. Er zögerte, dann fügte er süffisant hinzu: »Auf alle anderen, denen ich in Ambon begegnet bin und die aus gemäßigten Regionen eingetroffen sind, scheint die Sonne keinen so günstigen Einfluss gehabt zu haben.«
    Grant tat, als wüsste sie nicht, wovon er sprach. »Ich kann mir mit bestem Willen nicht vorstellen, wen Sie meinen könnten. Sicher, manche Menschen entwickeln tatsächlich leichte Psychosen, wenn es sie zum ersten Mal in die Tropen verschlägt. Das ist die Schattenseite. Aber Sie sind diesem Phänomen doch sicherlich schon früher begegnet, nicht wahr?«
    »Die britische Radsch fand etwas vor meiner Zeit statt.«
    Grant lächelte, dann schloss sie die Augen und reckte ihr Gesicht in die Sonne. Prabir blickte nach Ambon zurück, aber der graue Streifen am Horizont war bereits verschwunden. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte das Schweigen stundenlang anhalten können, aber darauf konnte er wohl nicht hoffen. Er brauchte dringend ein Gesprächsthema, das sie nicht ständig auf seine angebliche innige Vertrautheit mit allem, was in Sichtweite war, zurückführte. Grant würde ihn wohl kaum über Bord werfen, wenn sie ihn bei einem geringfügigen Widerspruch erwischte, aber wenn sie begann, sein Geflecht aus Halbwahrheiten zu entwirren, und er gezwungen war, ihr zu gestehen, wie beschränkt und eingerostet seine Kenntnisse der hiesigen Sprache, der Sitten und der Geographie wirklich waren, konnte er nicht mit Sicherheit ausschließen, dass sie ihn auf der nächsten unbewohnten Insel aussetzte.
    »Wie sieht Ihre Theorie aus?«, fragte er. »Wie erklären Sie sich, was hier mit den Tieren geschieht?«
    »Ich habe nicht den leisesten Schimmer.«
    Prabir lachte. »Ein erfrischender Standpunkt!«
    »Ich habe in der Tat einige vage Hypothesen«, räumte Grant ein und öffnete die Augen. »Aber es ist nichts dabei, was ich ohne extremen Druck offenbaren würde.«
    »Stellen Sie sich nicht so an! Sie

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