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Teranesia

Titel: Teranesia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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dass er schwul war. In gewisser Hinsicht wäre es für sie beide eine Beleidigung, wenn irgendwer zu verstehen gegeben hätte, dass es eine Rolle spielte. Doch sofern er sich nicht völlig in ihr täuschte, gehörte sie zu den Menschen, die selbstverständlich davon ausgingen, dass er nicht versuchen würde, die Situation auszunutzen, und sie selbst hatte durch keinerlei Anzeichen erkennen lassen, dass sie daran interessiert sein könnte, sie auszunutzen. Aber er wusste, dass sein Urteilsvermögen nicht immer zuverlässig war; er hatte sich so sehr daran gewöhnt, die Sexualität völlig selbstverständlich auszublenden, dass er häufig vergaß, dass andere Menschen ihn nicht zwangsläufig durch den gleichen Filter betrachteten. Einige Jahre nachdem er bei der Bank angefangen hatte, waren ihm zwei Auszubildende zugeteilt worden, die während ihrer Rotation durch die Abteilungen einen Monat lang von ihm betreut werden sollten. Es waren ein Mann und eine Frau gewesen, beide etwa in seinem Alter. Er hatte sich bemüht, es ihnen so angenehm wie möglich zu machen, weil er sich genau daran erinnerte, wie nervös er während der ersten Wochen an seinem neuen Arbeitsplatz gewesen war, und soweit er es beurteilen konnte, war er zu beiden gleich freundlich gewesen. Doch nachdem sie in die nächste Abteilung weitergezogen waren, hatte er erfahren, dass sich die Frau über seine Aufdringlichkeit beschwert hatte. Er war zu nett gewesen. Er musste etwas von ihr gewollt haben.
    Über das Wasser wehte eine sanfte Brise; ein paar Minuten lang fröstelte Prabir beinahe, bis seine Haut ein gewisses Temperaturgleichgewicht hergestellt hatte. Das Schiff schwankte ein wenig, während es durch die Wellenkämme schnitt, aber das beunruhigte ihn noch weniger als in der Enge der Kabine.
    Er hatte sein Notepad mitgenommen, fühlte sich jedoch zu müde, um seinen Sprachunterricht fortzusetzen. Er blickte zum äquatorialen Nachthimmel hinauf, denselben Himmel, den er immer vom Kampung aus gesehen hatte: schwarz wie Obsidian, mit vielen Sternen zwischen den Sternen. Wenn er versuchte, seinen Blick auf eine Stelle zu konzentrieren und sich ein Bild zu machen, nahmen seine Augen viel mehr Informationen auf, als sein Geist verarbeiten konnte.
    Noch vor wenigen Stunden war er beinahe glücklich über die Rückkehr in die Banda-See gewesen, aber nun schienen seine Verbindungen zu diesem Ort tausendmal unmittelbarer, und die Details seiner Erinnerungen wurden im Sternenlicht viel schärfer. Er spürte, wie sich die Jahre angesichts der überwältigenden Beweislast verflüchtigten: In seinen Ohren klang die Melodie der halb vertrauten Sprache, während er versuchte, in einer schwülen Nacht Schlaf zu finden. Genauso funktionierte das Gedächtnis, in dem es ähnliche Momente nebeneinander stellte. In seinem Kopf gab es kein lineares Magnetband, keinen Datumsstempel auf jedem mentalen Bild. Es spielte keine Rolle, was in der Zwischenzeit geschehen war. Nichts konnte die achtzehn Jahre zurückliegenden Tage und Nächte davon abhalten, so nah wie der gestrige Tag zu werden.
    Er nahm sein Notepad und rief das Adressbuch auf. Felix arbeitete jetzt, aber sie konnten bestimmt ein paar Minuten miteinander reden. Obwohl er es niemals zugeben würde, wäre er sicher beleidigt, dass Prabir ihm nur eine Nachricht hinterlassen hatte, als er ihn vom Hotel aus angerufen hatte. Wahrscheinlich wäre er bereit, sich durch ein zivilisiertes Gespräch für diese Kränkung trösten zu lassen.
    Prabir legte das Notepad wieder weg. Er war überzeugt, dass es funktionieren würde, dass es ihm helfen würde, wenn er im feinen Gitter aus Licht das Gesicht seines Liebhabers in Toronto betrachtete. Damit könnte er die Schrecken der Nacht verbannen. Aber trotzdem wollte er nicht auf derartige Krücken angewiesen sein.
    *
    Als Prabir in der Dämmerung aufwachte, fiel sein erster Blick auf den Gunung Api, einen schwarzen Vulkankegel, der sich aus grünen Hügeln erhob und die Banda-Inseln beherrschte. Weißer Nebel – er hoffte, dass es nur Nebel war – hüllte den Gipfel ein. Der Gunung Api war immer noch aktiv, und obwohl er seit fünfzehn Jahren keine ernsthaften Schwierigkeiten mehr gemacht hatte, war vor kurzem gemeldet worden, dass etwa einmal pro Monat Wolken aus heißen Gasen und Asche ausgestoßen wurden.
    Api, Banda Neira und Lontar, die drei Hauptinseln der Gruppe, waren gerade weit genug voneinander entfernt, um nicht wie Ambons siamesische Zwillinge miteinander zu

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