Terra Anchronos (German Edition)
Tag aber nun mal 24 Stunden hat, muss man vier Jahre warten, um sich einen Tag stehlen zu können.“
Arne schüttelte immer noch den Kopf. „Sind diese 24 Stunden denn am 29. Februar schon vergangen, oder wird der Tag sozusagen vorsorglich gestohlen?“
„Das ist doch völlig unwichtig!“ Erregt sprang Martha auf und lief ungeduldig auf einer Kreisbahn um Arne herum.
„Ob ich einen Apfel stehle, weil ich genau weiß, dass ich Hunger bekommen werde, oder ob ich ihn mir nehme, weil mir schon der Magen knurrt. Es ist unerheblich.
Gestohlen ist er allemal.“
„Ich will nicht mehr darüber diskutieren.“ Arne erhob sich ebenfalls und bedachte Martha mit einem gereizten Blick. „Das Beste wird sein, ich frage meinen Vater. Der ist Kapitän und kennt sich mit Zeiten, Umlaufbahnen und Sternen hervorragend aus.“
„Tu das“, antwortete Martha schnippisch. „Er wird aber nichts daran ändern können, dass ich am nächsten 29. Februar sterben muss.“
„Bis dahin vergeht noch viel Zeit. Der 29. Februar war vor gerade einmal drei Tagen. Du solltest dir nicht so viele Sorgen machen. Überhaupt halte ich diese Weissagung des Schamanen für ausgemachten Blödsinn.“
Arne wandte sich grußlos zum Gehen. Auf der Stiege hielt er kurz inne. Er hörte ein leises Weinen, wollte schon umkehren und Martha trösten, ließ es dann aber. Sie würde sich schon beruhigen. Und am nächsten Schalttag, der ja noch immerhin vier Jahre in der Zukunft lag, würde man schon sehen, was passiert. Wahrscheinlich nichts, dachte Arne. Dennoch ließ ihn die Frage, was es mit dem 29. Februar auf sich hatte, nicht los.
Er fragte seinen Vater. Doch auch der wusste keine Antwort darauf, ob der Schalttag ein vorsorgliches Borgen oder ein Nachholen der Zeit war. In jedem Falle aber sei der Schalttag nicht wegzudenken. Man könne zwar jedem Tag ungefähr eine Minute hinzufü gen, um den Schalttag zu vermeiden. Doch was wäre dann eine Stunde?
Dazu brauchte selbst der Kapitän einen Taschenrechner. „Ich hab’s“, rief er triumphierend. Er hatte Freude an der Frage seines Sohnes. Sie kam ihm äu ßerst intelligent vor. „Eine Stunde hätte dann nicht 60 Minuten, sondern fast 2,5 Sekunden mehr. Stell dir das einmal vor, Arne. Alle Uhren dieser Welt könnte man wegschmeißen. Alle Computer müssten neu programmiert werden.“
Er sah seinen Sohn fragend an. „Glaubst du, dass irgendjemand das alles bezahlen könnte?“
„Es wäre aber vielleicht immer noch besser als diese ewige Zeitstehlerei.“
Der Kapitän lächelte und strich seinem Sohn liebevoll über den Kopf. „Du solltest einen Brief mit deiner Frage nach Greenwich schicken.“
„Wieso nach Greenwich? Wo ist das?“
„Greenwich ist ein Stadtteil von London in England. Man könnte sagen, dass dort die Zeit gemacht wird. Die Diebe sitzen in London.“
Der Kapitän lächelte, vertiefte sich wieder in die Sonntagszeitung und ließ seinen Sohn ziemlich ratlos zurück.
Für den Rest des Tages stromerte Arne über den Deich und hing seinen Gedanken nach. Martha tat ihm leid, doch war er zu stolz, zu ihr zu gehen und sie tröstend in den Arm zu nehmen. Ihre schnippische Antwort hatte ihn verletzt. Seine Reaktion auf ihre Erklärungen, das war ihm durchaus bewusst, waren auch nicht sehr mitfühlend gewesen. Das schlechte Gewissen plagte ihn.
Am Abend steckte Martha dann kurz ihr verweintes Gesicht durch die Tür zur Stube und sagte, dass ihr nicht wohl sei. Sie wolle ohne Abendbrot zu Bett gehen. Arne war schon aufgesprungen und wollte dem Mädchen folgen, doch seine Mutter hielt ihn zurück.
„Lass sie. Martha hat eine anstrengende Zeit. Sie braucht ihre Ruhe.“ Arne fügte sich widerwillig.
Am nächsten Morgen war Arne überrascht, als Martha ihn fragte, ob sie ihn tatsächlich zur Schule begleiten dürfe. Prüfend schaute der Junge sie an und nickte. Insgeheim freute er sich, dass der gestrige Streit vergessen schien.
Arnes Vater, der Kapitän, brachte die Kinder mit dem Auto zum Unterricht.
Martha saß still neben Arne in der letzten Reihe des Klassenraumes. Es war ihr anzusehen, dass sie kaum etwas von dem verstand, was die Lehrer sagten oder an die Tafel schrieben. Sie war ja nie zur Schule gegangen.
Immer wieder fragte sie Arne, was dieses oder jenes zu bedeuten habe, bis der Lehrer meinte, die ständige Störung des Unterrichts nicht mehr dulden zu müssen.
Arne erhielt einen Tadel im Klassenbuch. Das kratzte den Jungen jedoch nicht im Geringsten. Verstohlen
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