Terra Anchronos (German Edition)
zum 29. Februar 1824 plötzlich übermächtig war. Als ich bemerkte, dass die Faulkammer schon begonnen hatte zu sinken, war es zu spät. Den Spalt konnte ich nicht mehr rechtzeitig erreichen. Alles ging viel zu schnell. Wenige Augenblicke später schwamm ich alleine in der Nordsee.“
„Wenn mein Vater dich nicht gerettet hätte, wärst du ertrunken.“ Arne nahm die noch immer weinende Martha tröstend in die Arme und strich ihr sanft über die blonden Locken. Er verstand die Trauer nicht, die aus ihren Augen sprach. Die Stirn lag in tiefen Sorgenfalten und es kam ihm vor, als würde das Mädchen der Gegenwart entfliehen. Sie schien so weit weg, dass er sie nicht mehr erreichen konnte, dabei lag sie doch in seinen Armen.
„Ist denn nicht alles gut? Du bist gerettet, du lebst und bist gesund.“
Martha reagierte nicht auf Arnes Worte. Ruhig und gleichmäßig hörte er ihre Atemzüge. Arne ahnte nicht, wie schwer es dem Mädchen fiel, die Worte auszusprechen, die ihr Schicksal waren. Sie schläft sicher gleich, dachte er, entließ sie aus seiner Umarmung und wartete auf den Schlaf, der sich aber nicht einstellen wollte.
Zu sehr waren seine Gedanken mit der Terra anchronos und den Subtektonen beschäftigt. Sein Geist war hellwach, während der Körper allmählich von einer bleiernen Schwere in Besitz genommen wurde.
„Jeder Schlaf ist ein kleiner Tod.“
Bei Marthas Worten war Arne sofort wieder hellwach. „Was hast du gesagt?“
Martha richtete sich auf und sah Arne im schwachen Schein des Mondlichts an, das ins Zimmer fiel.
„Wenn du einschläfst, ist es ein klein wenig, als ob du stirbst. Du weißt aber, dass du am Morgen wieder aufwachen wirst.“
Arne hielt das für selbstverständlich. Er war viel zu jung, um sich mit dem Gedanken an den Tod zu beschäftigen.
„Natürlich!“, sagte er leise.
„Du weißt nicht, wann du sterben wirst.“ Martha sprach die Worte von einem tiefen Seufzen begleitet aus. Arne sah, dass ihr stille Tränen über die Wange flossen.
„Niemand weiß, wann er sterben muss. Wer kann das schon sagen? Da müsste man Wahrsager sein.“
Martha schüttelte traurig den Kopf. „Arne!“, sagte sie und schlang ihre Arme um den Hals des Jungen.
„Ich kenne den Tag meines Todes.“
Der Schamane
Arne war mehr als empört darüber, dass seine Mutter ihn am nächsten Morgen mit strengem Ton auf noch zu erledigende Hausaufgaben aufmerksam machte. Seine Lehrer hatten am vergangenen Freitag einen Ausflug gemacht. Der Unterricht war an dem Tag ausgefallen und in der Zwischenzeit war so viel geschehen, dass Arne keinen Gedanken an die Schule hatte verschwenden können. Jetzt sollte er also die vernachlässigten Aufgaben erledigen, während seine Mutter mit Martha ein Kleid kaufen wollte. An einem Sonntag.
„Wir klingeln einfach bei Oma Theresa“, hatte Arnes Mutter auf den Einwand ihres Sohnes geantwortet. „Sie wird uns schon etwas verkaufen.“
Arne wusste das und machte sich widerwillig an die Aufgaben. Erst als die Mutter erwähnte, dass Martha ihn am Montag in die Schule begleiten dürfe, schlich sich ein leises Strahlen in seine Gesichtszüge.
Trotzdem waren es lange Stunden, die Arne hoffnungslos unkonzentriert über Rechenaufgaben und Fragen der deutschen Geschichte verbrachte. So hatte er auch nicht die Hälfte des Pensums erledigt, als Martha und die Mutter zurückkehrten. Schnell schlug er die Hefte zu und tat, als sei alles erledigt. Es gab Wichtigeres. Uninteressiert heuchelte er die von der Mutter geforderte Bewunderung. Das neue Kleid und auch die Schuhe sahen nach nichts Besonderem aus.
Arne betrachtete Martha und dachte bei sich, dass ihm das alte Leinenkleid und auch die Holzschuhe besser an dem Mädchen gefallen hatten. Jetzt sah Martha aus wie alle Mädchen ihres Alters. Nach allem, was Arne in den letzten Tagen über sie erfahren hatte, wollten die neuen Sachen nicht so recht zu ihr passen. Die Mutter machte ein leicht enttäuscht wirkendes Gesicht, ließ die Kinder dann aber mit einem Schulterzucken davonlaufen. Durch das Fenster der Stube sah sie, dass die beiden sich auf dem Weg zur alten Scheune befanden.
Nachdem Arne sich auf dem Thron niedergelassen hatte, sah er Martha erwartungsvoll an. Martha nahm einen verstaubten Globus zur Hand, den sie in einem Regal entdeckt hatte. Er quietschte, als das Mädchen die Kugel langsam drehte. Nachdenklich fuhr sie mit dem Zeigefinger die Linien der Längengrade entlang.
„Der Navigator sprang mit mir in die
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