Terra Anchronos (German Edition)
ungeschickt vor Arne. „Deine Heimreise werde ich selbstverständlich bezahlen. Ich nehme an, dass du kein Geld in der Tasche hast.“
Am selben Tag noch fuhren beide in Stewarts altertümlich anmutendem Auto nach Dover. Ursprünglich hatte Stewart Arnes Eltern anrufen wollen, doch auf das flehende Bitten des Jungen hin hatte er schließlich Abstand davon genommen.
Wenn du deine Eltern überraschen möchtest, kann ich nichts dagegen sagen, hatte Stewart gemeint. Ein Tag mehr scheint mir nicht sehr ins Gewicht zu fallen. Arne bestieg mit flauem Gefühl im Magen die Fähre nach Dünkirchen. Stewart hatte ihm Fahrkarten für die Zugverbindung nach Bensersiel zugesteckt und den Fahrplan erklärt. Es konnte nichts schiefgehen.
Jedes Rattern des Zuges auf den Stößen der Bahnschienen brachte den Jungen nicht nur ein Stück der Heimat näher. Es war auch gleichzeitig ein Entfernen von seiner Freundin Martha. Er vermisste sie schmerzlich und konnte während der Fahrt die Tränen nicht zurückhalten. Mit verheulten Augen stieg er schließ lich am Bensersieler Bahnhof aus. Er hatte keinen Koffer zu tragen. Nicht einmal eine kleine Reisetasche.
Mit nichts weiter als einem Zettel in der Hosentasche, auf dem Stewarts Adresse notiert war, betrat er den heimatlichen Bahnsteig. Niemand sonst verließ den Zug. Arne überkam das traurige Gefühl grenzenloser Einsamkeit.
Der Junge kannte alle Schleichwege des Dorfes.
Er mied die Dorfstraße und schlich abseits aller Wege in Richtung seines Elternhauses. Mit jedem Schritt, den er tat, wuchs sein schlechtes Gewissen gegenüber Mutter und Vater. Ohne ein Wort zu sagen war er verschwunden, einfach über Bord gesprungen und in die Terra anchronos abgetaucht. Der Moment, in dem er den Entschluss gefasst hatte, Martha in die Fluten des Pazifiks zu folgen, tauchte in seiner Erinnerung auf. Arne suchte vergeblich nach dem Gedanken an seine Eltern, den er beim Absprung doch gehabt haben musste. Er war wie ausgelöscht. Arne machte sich schwere Vorwürfe, nicht eine Sekunde an seine Eltern gedacht zu haben.
In einiger Entfernung vom Haus legte Arne sich flach auf den kalten Boden und beobachtete das Grundstück. Die alte Scheune stand wie eh und je.
Ihre Tür stand halb offen und wurde von einem leichten Wind bewegt. Das Quietschen in den Angeln war weithin zu hören. Ob wohl auf dem Dachboden noch alles beim Alten ist? Arne fielen sofort die vielen Stunden ein, die er dort mit Martha verbracht hatte. Die Worte des Mädchens klangen plötzlich so deutlich in seinem Ohr, als seien sie gerade eben erst ausgesprochen worden. Arne lächelte. „Alles, was sie gesagt hat, ist wahr“, murmelte er. „Wie muss sie sich gefühlt haben, als ich ihr immer wieder nicht glauben wollte?“
Dann sah Arne, wie die Haustür aufging und seine Mutter etwas über den Hof rief. Der Junge erschrak, als er bemerkte, dass sie ganz in Schwarz gekleidet war.
„Mein Gott“, stieß er hervor. „Es ist jemand gestorben.“
Schon schossen ihm die Tränen aus den Augen.
Arne sprang auf und lief so schnell er konnte auf das Haus zu. Er stolperte, fiel hin und rappelte sich wieder auf. Als er atemlos den Gartenzaun erreichte, blieb er stehen. Vater und Mutter standen nebeneinander auf dem Hof und starrten in seine Richtung.
„Arne, bist du das?“
Die Stimme des Vaters klang vertraut. Sie war Arne noch gut im Gedächtnis. Doch der Klang hatte sich verändert. Sie hörte sich an, als sei dem Kapitän in der Zeit seit Arnes Verschwinden das Herz gebrochen.
Die Mutter hingegen stellte keine Frage. Sie riss die Arme nach vorn und rannte auf ihren Sohn zu.
Über den Gartenzaun hinweg drückte sie den Jungen an ihre Brust und streichelte fortwährend seinen Kopf.
Immer wieder kam nur ein einziges Wort über ihre Lippen: „Arne.“
Arnes Erlebnisse, die er natürlich bis in alle Einzelheiten beschrieb, wurden am Kamin der Wohnstube mit ungläubigem Staunen und schweigend zur Kenntnis genommen. Nur ganz zu Anfang unternahm der Kapitän einen Versuch, Arnes Darstellung der Ereignisse zu korrigieren.
„Das kann nicht stimmen, Arne“, sagte er und zupfte an den Haaren seines Bartes. „Martha war bei Paul Brodersen untergebracht. Sie ist aber davongelaufen.
Nicht, wie du sagst, sozusagen entführt worden.“
„Und das zerbrochene Rosengitter?“, fragte Arne.
„Ist das nicht Beweis genug.“
„Es gab in der folgenden Nacht einen Sturm. Herabfallende Dachziegel haben das Gitter arg in Mitleidenschaft
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