Terra Madre
grundlegende, war enorm. Es war unmöglich, den Überblick zu behalten.
Selbstwertgefühl
Das Wichtigste, was alle Teilnehmer mit nach Hause nahmen, war, so denke ich, das neu gewonnene Selbstwertgefühl, sowohl für sich selbst als auch in Bezug auf ihre Arbeit. Das ist in der heutigen Welt keine Selbstverständlichkeit und bedeutete für sehr viele Teilnehmer des Terra-Madre-Treffens einen weitaus schwierigeren Prozess als für jemand, der sich nicht mit Lebensmitteln beschäftigt.
Stellen Sie sich diese Menschen vor: den Kleinbauern in einem abgelegenen Dorf in Burkina Faso, den Fischer mit seinem kleinen Boot auf einer entlegenen Insel Südostasiens, den Reisbauern in Madagaskar, den im brasilianischen cerrado lebenden Indio, die Frau, die durch das Ausbringen besonderer Saaten mithilft, die unglaubliche Artenvielfalt Indiens zu retten; oder auch den mongolischen Hirten, den Samen, der mit seinen Rentieren durch Norwegen, Russland, Schweden und Finnland zieht, den Wanderschäfer in den Abruzzen, den Trockenfrüchteerzeuger in Afghanistan, den Gemüsebauern vor den Toren Sarajevos – sie alle arbeiten hart und verdienen wenig, haben nur wenig Freizeit und kommen in den meisten Fällen nie aus ihren Dörfern heraus. Trotzdem setzen sie sich ein, pflegen den Dialog mit der Natur, machen sie fruchtbar, versorgen ihre Gemeinschaften und viele andere mit Nahrung. Für den Rest der Welt waren sie – und sind es noch immer – Randökonomie, wenig produktiv. Niemand interessiert sich für sie. Außerhalb der eigenen Gemeinschaft fühlen sie sich ausgeschlossen, ja, ausgestoßen. Die Versuchung, alles hinzuwerfen, ist groß: Vielleicht gäbe es in der Stadt mehr Möglichkeiten, vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, den Versuchungen des Konsums zu folgen. Man könnte »jemand« werden.
Sie wissen dabei oft nicht, dass sich gerade in den Konsumtempeln die Wüste ausbreitet und dass die Armen, die jede Hoffnung verloren haben, nur die Riesenstädte weiter anwachsen lassen. Auf dem Land sind diese Menschen noch »jemand«. Sie besitzen die nötigen Kenntnisse, um sich und andere zu ernähren, um im Einklang mit ihrem natürlichen und kulturellen Umfeld zu handeln. Viele Reisende, die arme Länder besuchen, bringen es oft so auf den Punkt: »Die Leute sind arm, aber sie scheinen glücklich und unbeschwert.« Das ist einer der am häufigsten missbrauchten Gemeinplätze nach der Rückkehr von einer Reise in den Süden der Welt. Und dennoch besitzt er einen wahren Kern: Diese Menschen haben sich etwas bewahrt, was wir verloren haben, etwas ganz Natürliches, das allen angeboren ist. Sie sind sich nicht einmal bewusst, dass sie es besitzen. Und wir realisieren nicht, dass wir es verloren haben.
Terra Madre hat sie von der Wichtigkeit ihrer Tätigkeit überzeugt. Ihr Wirken als »Intellektuelle der Erde«, wie wir sie seit dem ersten Treffen nennen, ist unabdingbar für die Zukunft unseres Planeten. Sie haben durch Terra Madre erfahren, dass sie nicht allein auf der Welt sind. An weit entfernten Orten leben andere Menschen, die genauso wichtig sind und die sich vorher genauso allein gefühlt haben. Das Selbstwertgefühl darf nicht unterschätzt werden. Es steht am Anfang eines persönlichen Wegs, der dazu anregt, nicht nachzulassen, beharrlich zu bleiben und besser zu werden.
Emotionale Intelligenz
Die Rückeroberung des Selbstwertgefühls und die Erfahrung der Begegnung bereichern die Lebensmittelbündnisse nicht nur und geben ihnen neuen Auftrieb, sie sind in gewisser Weise auch das Bindeglied zwischen den Gemeinschaften. Es wird ihnen nämlich bewusst, dass sie trotz ihrer Verschiedenheit viel gemeinsam haben. Das hat mit ihrer Einstellung und mit ihrer persönlichen und kollektiven Geschichte zu tun, die sich parallel zur Geschichte jenes Anteils an Mutter Erde entwickelte, der ihnen anvertraut ist. Den Menschen wird klar, dass sie ein gemeinsames Schicksal teilen. Sie sind, um es mit Edgar Morin zu sagen, eine »Schicksalsgemeinschaft«, und sie können ihre Zukunft selbst bestimmen.
Diese Empfindung bezeichne ich gern als emotionale Intelligenz. Sie entzieht sich den Regeln der Konsumgesellschaft, in der Individualismus und strikte Rationalität herrscht. Die Gemeinschaften von Terra Madre praktizieren Brüderlichkeit – durch ihr Wissen, ihre Fähigkeiten, ihre Art und Weise, in der Welt zu stehen. Als »Intellektuelle der Erde« besitzen sie eine eigene Intelligenz, als Lebensmittelbündnisse sind sie
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