Terra Madre
traditioneller, vom Aussterben bedrohter Erzeugnisse. Inzwischen gibt es deren 193 in Italien und über 120 weitere in 46 Ländern der Welt. An diesen Projekten sind mehr als 10.000 kleine Produzenten beteiligt: Bauern, Fischer, Hirten, Erzeuger von Wurst und Käse, Bäcker, Konditoren. Es sind konkrete und lobenswerte Beispiele eines neuen Landwirtschaftsmodells, das auf Qualität, traditionellem Wissen, der Beachtung des jahreszeitlichen Rhythmus und des Wohlergehens der Tiere beruht. Die Produkte sind von guter Qualität und mit der örtlichen Kultur verwurzelt. Sie sind sauber, das heißt, sie werden mit nachhaltigen Methoden und mit Rücksicht auf die Natur gewonnen; sie sind fair, indem die Arbeitsbedingungen der Menschen, ihre Rechte und ihre Kultur geachtet und eine menschenwürdige Entlohnung garantiert wird. Sie stärken die lokale Wirtschaft und fördern das Entstehen eines starken Bündnisses zwischen Produzenten und Verbrauchern. Die Presidi werden von der Fondazione Slow Food per la Biodiversità Onlus (gemeinnützige Slow-Food-Stiftung für Biodiversität; www.fondazioneslowfood.it) gefördert und koordiniert und gehören zum Netzwerk der Lebensmittelbündnisse von Terra Madre.
[ 2 ] Für ausführlichere Informationen zu den Mercati della Terra (Bauernmärkte) siehe http://www.mercatidellaterra.it
[ 3 ] Roland Barthes, Antrittsvorlesung am Collège de France (1977), in: Roland Barthes, Lektion/Leçon – Französisch und Deutsch, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1980.
Die Lebensmittelbündnisse
Das Lebensmittelbündnis ist das zentrale Element einer neuen globalen Nahrungsmittelpolitik. In diesem Kapitel möchte ich berichten, wie die Bündnisse als Teil der Terra-Madre-Bewegung entstanden und wie sie sich weiterentwickelt haben.
Der Begriff »Lebensmittelbündnis« wurde Ende 2003 geprägt, weil wir einen gemeinsamen Nenner für die Gruppen brauchten, die wir zum ersten Terra-Madre-Treffen einladen wollten. Er sollte für eine Art »Einheit« stehen, aus deren Mitte wir dann jene Vertreter auswählen konnten, die wegen ihres Charismas oder ihrer Fähigkeiten zu kommunizieren (z.B. ihrer Sprachkenntnisse) in Turin zusammenkommen sollten.
Nach den uns zur Verfügung stehenden Informationen hatten wir es mit sehr verschiedenartigen sozialen Gruppen zu tun: mit Dörfern, Ethnien, kleinen Erzeugervereinigungen, Familienverbänden, Einkaufsorganisationen, ganzen lokalen Produktionssystemen, mit vollständigen, auf Nachhaltigkeit achtenden Nahrungsmittelketten, mit städtischer Landwirtschaft, sowohl regional als auch national ausgerichtet. Wir konnten diese Leute meist nach geografischen Kriterien in Gruppen einteilen, da sie in der Regel aus klar begrenzten Gegenden kamen. Es waren jedoch auch sehr große Gebiete vertreten, und manchmal bestand die Verbindung zwischen den Mitgliedern einer Gemeinschaft nur virtuell und über große Entfernung.
Der Begriff Lebensmittelbündnis erschien uns sofort als genau zutreffend. Er fasste Personen in einer Gruppe zusammen, die trotz ihrer großen Heterogenität bestimmte Werte teilten. Außerdem stand bei allen die Nahrung im Mittelpunkt ihres Lebens. Das ist in der heutigen Welt keineswegs selbstverständlich.
Nach den ersten Terra-Madre-Treffen und der Festigung des ständigen Netzwerks gewann der Begriff Lebensmittelbündnis mehr und mehr an Gewicht. Die zunächst rein funktionale Definition wurde zu einem echten Konzept. Auf dieser ideellen und gleichzeitig konkreten Basis konnten sich die Philosophie und die Aktionen von Terra Madre in ihrer ganzen Breite und Bedeutung gleichermaßen entfalten.
Der ganzheitliche und systemische Ansatz von Terra Madre führte ab dem zweiten Treffen zu einer Ausweitung des Konzepts. Wir nahmen auch Köche, Akademiker, Musiker und Produzenten von Naturfasern in die Lebensmittelbündnisse auf. Nachdem ursprünglich nur an Bündnisse aus Produzenten gedacht worden war, wurde nun auch Platz geschaffen für organisierte Konsumenten, die mit den Bauern eng zusammenarbeiten.
Allerdings finden wir für diese Personen die Bezeichnung »Konsumenten« unangebracht. Wir nennen die Menschen, die die von den Bündnissen erzeugten Lebensmittel essen, lieber »Koproduzenten«. Sie lehnen die konsumistische Idee des weltweiten Agrar- und Nahrungsmittelsystems ab und sind daher nicht einfach Konsumenten. Für sie ist »Essen eine landwirtschaftliche Handlung« [1] . Sie unterstützen und belohnen diejenigen, die mit einem gastronomischem
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