Terra Madre
Dingen tun? Sie sind die Quelle für Genuss, Sinn und Glück. In den Dingen wie in den Gedanken »ist die Welt voller aufgegebener Bedeutungen«, um es mit Don DeLillo zu sagen. [3] Warum sollte man diese Bedeutungen nicht wieder hervorholen und dem Sinn des Lebens eine neue Richtung geben?
Teilnahme
In einer lokalen Wirtschaft beteiligt jeder Prozess, der das Gebiet betrifft, dessen Einwohner und bringt sie dazu, Verantwortung zu übernehmen. Dies gilt nicht für die bereits besprochene Produktion, sondern beispielsweise auch für die Bewahrung der Landschaft, der natürlichen und architektonischen Schönheit oder für immaterielle Aspekte wie die Traditionen. Diese Verantwortung ist nicht aufgezwungen, sie wird ehrlich empfunden, denn die Bevölkerung ist sich bewusst, dass sie sich um ihr eigenes Territorium kümmert. Sie ist aktiver Teil davon, auch mit einer so einfachen Handlung wie dem Essen.
Die lokale Wirtschaft gibt uns unsere Orte, unsere Identität und unsere Existenz zurück. Aus diesem Grund fürchten die politischen und wirtschaftlichen Machthaber sie wie die schlimmste Pest. Nicht zufällig fragte sich der französische Präsident Charles de Gaulle, wie man eine Nation regieren könne, die über 200 Käsesorten besitzt. Vielfalt erzeugt Angst. Sie ist von oben nicht kontrollierbar.
Wir müssen den Bündnissen wieder Vertrauen schenken. Sie sorgen ja zunächst für ihr eigenes Wohlergehen. Daraus erwächst die Hoffnung, dass wir wieder selbst über unser Leben entscheiden können. Wir bilden eine Schicksalsgemeinschaft, in der sich jeder um das Stück Welt kümmert, in das hinein er das Glück hatte, geboren zu werden, oder in dem er beschlossen hat zu leben.
Erinnerung
In einer Gesellschaft, die sich nicht mit dem Problem der Verschwendung befasst, werden leicht auch das Wissen und die Traditionen vergeudet, jene Elemente, die die Identität bestimmen. Lokale Wirtschaftssysteme bewahren hingegen die Erinnerung, weil sie das müssen. Sie wissen, dass sie auf ihre eigene Erinnerung und die ihrer Gemeinschaft nicht verzichten können. Erinnern heißt, sich um sich selbst zu sorgen. Wenn ich Erinnerungen habe, die an ein Objekt gebunden sind, zum Beispiel an ein Sofa bei mir zu Hause, achte ich besser darauf. Es wird schwieriger, es einfach wegzuwerfen – vielleicht lasse ich es reparieren und behalte es.
Erinnerung heißt Sorge, und lokale Erinnerung bedeutet Sorge um den Ort. Dabei sind nicht nur physische Orte gemeint, sondern auch ganzheitliche Systeme mit ihrer Wirtschaft, ihrer Kultur und ihren Lebensmitteln.
Die lokale Erinnerung zu bewahren ist Aufgabe des Bündnisses. Es muss die Mittel für ihre Erforschung und Bewahrung bereitstellen. Es muss die lokale Geschichte fortführen, die landwirtschaftlichen Praktiken, die sozialen Konventionen. Es muss die Esstraditionen und die damit verbundenen geselligen Riten überliefern. Die Bewahrung der lokalen Erinnerung ist auch ein typisches Beispiel dafür, wie Altes und Neues in der postmodernen Gesellschaft zusammenwirken können. Mit einfachen Methoden kann man heute die Erzählungen der Alten, die Bilder von traditionellen Arbeitsweisen und Praktiken, die Produktionsmethoden und kulinarischen Traditionen festhalten. In jeder Gemeinschaft gibt es eine Geschichte im Kleinen, die von den Personen erzählt, die in ihr gelebt haben, ihren kleinen und großen Unternehmungen. Schon der Kampf um das tägliche Überleben, die Mühen und die manchmal genialen Strategien zeigen die Vergangenheit, die unsere Gegenwart und das Gesicht unserer Orte prägte. Wird das vergessen, geht Identität verloren, der tiefere Sinn unseres Lebens und der von uns bewohnten Orte.
Weil ich das nicht wollte, habe ich in meiner Geburtsstadt Bra mit ein paar Mitstreitern, die sich für Lokalgeschichte interessieren, das Istituto Storico di Bra e dei Braidesi (Historisches Institut von Bra und der Braideser) gegründet. Wir haben einen jungen Historiker angestellt, und darum herum hat sich eine sehr aktive Gruppe aus Unterstützern und Sympathisanten gebildet. Wir geben eine Zeitschrift heraus und veranstalten öffentliche Abende, an denen jede Ausgabe vorgestellt wird und die immer überraschend gut besucht sind. So bewahren wir ein wenig von unserer lokalen Erinnerung. Wir vertiefen Aspekte der Stadtgeschichte und ihrer Einwohner, veröffentlichen Material aus Privatbesitz, das uns die Leute zur Verfügung stellen. Jede Ausgabe der Zeitschrift behandelt einen besonderen
Weitere Kostenlose Bücher