Terra Mater
obwohl er glaubte, diesen Zusammenhang bald erkennen zu können, entglitt ihm der Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels immer wieder, was ihn allmählich zur Verzweiflung brachte.
Marti hatte nur einen Wunsch: so schnell wie möglich von Jer Salem zu verschwinden, denn aus der Konfrontation zwischen San Francisco und den Abynern konnte nichts Gutes erwachsen. Der Andere, der Dämon in ihm manifestierte sich momentan nicht, doch der junge Kervaleur war nicht mehr er selbst. Langsam und unerbittlich wurde sein Körper zu einer seelenlosen Hülle.
Der Prinz Vancouver kehrte an seinen Platz zurück, beugte sich zu seinem Nachbarn und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Die vier Abyner berieten sich leise. Die in der Menge verstreuten Mitglieder des Stammes der Amerikaner waren resigniert. Sie hatten keine Lust mehr, ihren verbannten Prinzen zu unterstützen – diesen Gock-Freund und Verräter.
»Du hast eine Grenze überschritten, wo dich deine prinzlichen Vorrechte nicht mehr schützen«, erklärte einer der Abyner. »Am morgigen Tag wirst du entkleidet und im Zirkus der Tränen den wilden Tigerbären zum Fraß vorgeworfen. Die drei Gocks und alle Freiwilligen, die dein Schicksal teilen wollen, werden dich begleiten …«
San Francisco nahm das Urteil unbewegt entgegen, doch er wurde blass.
»Die Prinzen Jer Salems, die mit diesem Urteilsspruch nicht einverstanden sind, mögen sprechen …«
Einige Prinzen senkten den Blick und starrten zu Boden, aber niemand stand auf.
»Was euch betrifft, ihr Männer im Gefolge des Verurteilten, euch kann sofort vergeben werden, wenn ihr mit Kopf und Herz jetzt eine Entscheidung trefft. Entweder ihr bleibt
bei San Francisco und den Gocks, oder ihr übergebt eure Schwerter euren Prinzen und haltet euch von den Verurteilten fern.«
Mit Blicken forderte San Francisco seine Männer auf, dem Geheiß der Abyner zu folgen. Einige von ihnen dienten ihm bereits seit zwanzig Jahren. Sie hatten ein Raumschiff der Gleba gestohlen und im Exil auf Franzia gelebt. Sie waren ihm ergeben, weil er ein gerechter und großzügiger Mann war. Er hatte sie nie enttäuscht, und so waren sie bereit, ihr Leben für ihn zu geben. Aber seine Blicke verrieten ihnen, dass er sie bat, kein Blut im Tempel Salomons zu vergießen. Das war ein stummer Befehl, dem sie folgen mussten.
Zu Tode betrübt und mit Tränen in den Augen traten sie einer nach dem anderen vor und legten ihre Schwerter zu Füßen der Abyner nieder.
»Jetzt mögen sich jene des erwählten Volkes, die das Schicksal San Franciscos und der drei Gocks teilen möchten, zu den Verurteilten gesellen!«, fuhr der Abyner mit lauter Stimme fort.
»Ich!«
Sofort erkannte San Francisco diese Stimme, und sein Herz machte einen Sprung. Er erkannte die vertraute Gestalt, wie sie sich von den oberen Rängen aus einen Weg nach unten bahnte. Im Hauptgang angekommen, fing sie an zu laufen und warf sich ihm in die Arme.
»Phoenix!«
Er hielt sie lange umfangen und atmete ihren Duft ein. Dann packte er sie bei den Schultern und schob sie sanft von sich. Aus der Halbwüchsigen war eine wunderschöne Frau geworden, deren schwarzes Haar bis zur Taille fiel.
»Du darfst nicht bei uns bleiben, Phoenix«, sagte San
Francisco leise, »sonst wirst du niemals auf dem Jer Salem des Lichts leben …«
»Das ist mir egal«, sagte Phoenix. »Ohne dich interessiert mich Eden nicht. In den letzten Stunden meines Lebens will ich bei dir sein.«
»Du wirst mich vergessen …«
»Mein Herz hat zwanzig Jahre auf dich gewartet. Es kann nicht vergessen.«
»Denk an deine Eltern.«
»Ich bin sechsunddreißig Jahre alt, mein Prinz. Es ist höchste Zeit, dass ich aus ihren Köpfen und Herzen trete. Mein Entschluss steht fest. Von etwas anderem kannst du mich nicht überzeugen. In den uns verbleibenden Stunden werde ich dich so in meine Liebe einhüllen, dass sie das Eis schmelzen lassen und uns das Reich des Todes unversehrt durchqueren lassen wird …«
San Francisco lächelte Phoenix zärtlich an und nahm sie in die Arme. Er küsste sie.
Jek dachte an das junge Paar in der Untergrundbahn von Anjor, das sich so gierig geküsst hatte. Küsse hatten die seltsame Eigenschaft, Liebende ihre Umgebung nicht mehr wahrnehmen zu lassen, selbst wenn diese ihnen feindlich gesonnen war. Der Schiedsspruch hatte den kleinen Anjorianer zuerst mit Entsetzen erfüllt, doch die Wärme, die von der Liebe der beiden ausging, hatte ihm seine Angst genommen – wie durch einen Zauber war
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