Terra Mater
Rand des bewohnten Universums lag und von seinem Korallenschild geschützt wurde, hatte es dort nie eine Invasion gegeben, keinen Krieg und keine Revolution. Also hatte die Regierung es nicht für nötig erachtet, ein Söldnerheer zu unterhalten. Kriegerische Handlungen hätten außerdem das sensible ökologische System des Planeten völlig zerstört. Deshalb war die Annektion problemlos und ohne Gegenwehr verlaufen.
»Euer Gnaden, dürfen wir Euren Worten entnehmen, dass Ihr plant, den Thuta-Orden aufzulösen?«
Der Kardinal drehte sich abrupt um und musterte die Sprecherin, eine alte Matrionin namens Muremi, mit seinen wässrigen Augen.
»Nicht sofort, Madame. Wir müssen zuerst Automaten konstruieren, die die besonderen Gegebenheiten des Korallenschilds berücksichtigen. Dann planen wir eine Übergangsphase; in dieser Zeit begleiten Ihre Schwestern die Automaten und überwachen sie. Wie Sie sehen, sind wir auf Ihre diesbezüglichen Kompetenzen angewiesen. Doch da ich annehme, dass diese Schwester nach ihrer gefährlichen Begegnung mit der Korallenschlange erschöpft ist und sich ausruhen möchte, hätte ich ihr noch gerne eine letzte Frage gestellt, ehe sie sich wieder in ihre Zelle begeben kann. Gerüchten zufolge arbeiten Sie im Zustand animalischer Nacktheit in den Röhrenwerken der Großen Orgeln. Stimmt das?«
Die Matrionen warfen Oniki flehende Blicke zu. Sie begriff sofort, dass sie die Ordensregel Nummer elf (Verbot der Lüge und Heuchelei), die sie seit drei Tagen gebrochen hatte, nun billigend brechen durfte.
»Wir tragen Schutzanzüge«, sagte Oniki. »Würden wir sie nicht anziehen, würden wir uns ständig an den scharfen Vorsprüngen und Kanten der Röhren verletzen …«
Sie sah, dass sich eine ungeheure Erleichterung auf den Gesichtern der Matrionen ausbreitete.
Der Kardinal schien zufrieden. »Ihre Worte tragen zu unserer Beruhigung bei«, sagte er, einen zweifelnden Unterton in der Stimme. »Ich möchte wetten, würden wir eine Inspektion im Orgelwerk durchführen, träfen wir keine von Ihren Mitschwestern im Zustand der Sünde an. Vergessen Sie niemals, dass die Nacktheit den Menschen zum Tier werden, in ihm wieder jene niederen Instinkte aufleben lässt, die wir so vehement bekämpfen … Unsere Unterredung ist beendet, Schwester. Sie dürfen sich entfernen.«
Oniki verneigte sich und ging aus dem Gerichtssaal. Im
Vorraum musste sie an sich halten, um nicht vor Freude schreiend in die Luft zu springen. Sie hatte geglaubt, verurteilt und in die Verbannung geschickt zu werden. Doch noch nie hatte sie sich so lebendig, so frei gefühlt – trotz der Drohungen des Kardinals.
Die beiden Laienschwestern hatten im Flur auf sie gewartet. Jetzt eilten sie zu Oniki und bestürmten sie mit Fragen. Aber die junge Frau gönnte sich eine kleine Rache. Sie beschleunigte ihren Schritt und blieb stumm, bis die zwei verärgert ihr Ansinnen aufgaben.
Erst als Oniki in ihrer Zellentür stand, fragte sie sich, wie der schöne Unbekannte aus seinem Gefängnis hatte fl iehen können, wenn niemand ihm die Tür geöffnet hatte?
Kardinal d’Esgouve und der Inquisitor-Scaythe Xaphox gingen in Begleitung von zwei Gedankenschützern, zwanzig Interlisten, fünf Missionaren und einem Vikar zur Kirche zurück. Dieses Gebäude in der Innenstadt war beschlagnahmt und mehr schlecht als recht den Funktionen des Kreuzianismus’ angepasst worden. Eine Wegstrecke von drei Kilometern musste die Abordnung durch enge Gassen zurücklegen, denn das Kloster lag am Stadtrand auf einem Hügel. Doch der Kardinal liebte es, zu Fuß zu gehen und benutzte den Personenair nur für längere Strecken.
»Und was haben Sie Interessantes im Gehirn dieses Mädchens entdeckt, Inquisitor?«, fragte der Kardinal.
Der Scaythe antwortete nicht sofort. Die Strahlen Tau Xirs fielen in breiten Bändern durch die hohen Säulen der Orgelwerke und tauchten die Häuser, Wände, Bäume und Menschen in ein rötliches Licht. Der Stolze Wind ließ sein ständiges und betörendes Lied erklingen.
Der Kardinal aber hatte noch immer dieses unangenehme
Gefühl, der dunkle, hoch aufragende Korallenschild könnte jederzeit einstürzen und die Stadt Koralion unter sich begraben, auch wenn ihm die Verantwortlichen der Gilde der Pylonen versichert hatten, es bestehe keine Gefahr.
»Bezüglich des Nacktseins hat sie gelogen«. Xaphox metallische, unpersönliche Stimme ließ den Kardinal zusammenzucken.
Er hatte sich nie an diesen Tonfall gewöhnen
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