Terroir
und propagierte einen echten, einen reinen Wein. Rebsorten wurden definiert, die Weinberge wurden neu und „wissenschaftlich“ klassifiziert und Weinbau und die Kellertechnik nach und nach dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte angepasst. Die Erfindungen der Hydraulik revolutionierten die Keltertechnik, Schlauch und Pumpe erleichterten die Arbeit im Keller, und irgendwann wurde der traditionelle Transport der Weinfässer auf Schiff oder Pferdefuhrwerk von der Eisenbahn abgelöst. Lehrbücher wurden in hohen Auflagen gedruckt und Weinbauschulen gegründet. Es gab nun industriell hergestellte Glasflaschen, Korkmaschinen, die ersten Filter. Und irgendwann bekamen die von Hand betriebene Kolbenpumpe und die Kelter einen Elektromotor. Seinerzeit unglaubliche Umwälzungen für die Vinifikation – aus heutiger Perspektive jedoch muten sie geradezu harmlos an. Die „guten alten Maschinen“ sagen wir, nostalgisch verklärt, wenn wir die alten Gerätschaften betrachten. Denn so lange ist das ja noch gar nicht her. Viele verbinden mit diesen Maschinen,die heute Museen und Probierstuben der Winzer schmücken, ihre Kindheitserinnerungen.
Einen ganz entscheidenden Impuls verdankt die europäische Weinwirtschaft der Kontinentalsperre Napoleons. Zucker, der normalerweise als Rohrzucker unter englischer Flagge nach Europa geschifft wurde, wurde knapp und motivierte zur Züchtung der Zuckerrübe. Nach 1830 standen erstmals enorme Mengen von industriell hergestelltem Zucker zur Verfügung. Auch für den Wein. Der Chemieprofessor Jean-Antoine Chaptal hatte schon 1801 , in seiner Zeit als Innenminister Napoleons, in seinem Buch L’art de faire, de gouverner, et de perfectionner les vins die Zuckerung des Traubenmosts zur Erhöhung des Alkoholgehalts im Wein propagiert. Noch heute bezeichnet man daher diese Praxis als Chaptalisieren, was in der galanten Variante als „Verbesserung“ ab Mitte des 19 . Jahrhunderts in Europa immer populärer wurde. Aber warum eigentlich? Hatten die Weine nicht genug natürlichen Alkohol? Oft hatten sie das nicht. Denn nach dem warmen Mittelalter, in dem sich der Weinbau weit nach Norden bis England, Schweden und an die Memel ausdehnen konnte, war es vom 16 . bis zum 19 . Jahrhundert klimatisch recht ungemütlich. Geringere Sonnenaktivität und viele Vulkanausbrüche ließen die Durchschnittstemperaturen in Mitteleuropa um fast zwei Grad Celsius absinken. Zwar gab es zu Beginn dieser kleinen Eiszeit auch extreme Ausschläge nach oben – 1541 blühten in Deutschland an Weihnachten die Kirschbäume –, aber alles in allem wurden die Trauben in vielen Jahren nicht reif. Aber nicht nur das Klima, auch die politischen Rahmenbedingungen machten dem Weinbau in diesen Zeiten gehörig zu schaffen. Der Dreißigjährige Krieg, dann der Spanische Erbfolgekrieg, Hungersnöte, Hexenverfolgung, Pest. Über viele Jahre kam der Weinhandel verschiedener Regionen vollends zum Erliegen. Der Weinbau regredierte wie die gesamte Landwirtschaft auf eine reine Subsistenzwirtschaft. Wie viele Weinberge in dieser Zeit brachfielen, wurde noch nie exakt untersucht.
Sicherlich gab es auch das eine oder andere ökonomische Zwischenhoch. Das nachrevolutionäre Frankreich zum Beispiel versuchte, der Bevölkerung in den neu geschaffenen Departements entlang des Rheins die neuen Strukturen mit überdurchschnittlich hohen Weinpreisen schmackhaft zu machen. Und nach den Befreiungskriegen kam erst an der nun preußischen Mosel und mit der Erweiterung des Zollvereins dann auch in Hessen und in der Pfalz wieder richtig Schwung in den Handel. Nicht nur nach Berlin. Auch Holland und England konnten endlich wieder beliefert werden. Der Handel prosperierte allerdings nur zwei Dekaden. Denn mit der Auswanderungswelle nach Amerika und dem damit einhergehenden Warenaustausch kam es zur bislang größten Katastrophe des europäischen Weinbaus. Den in diesen Jahren eingeschleppten Krankheiten gegenüber waren die europäischen Reben schutzlos ausgeliefert. Zusätzlich zu einigen witterungsbedingt sehr schlechten Jahrgängen verursachten Oidium, Peronospora und die Reblaus eine Missernte nach der anderen. Noch heute kolportieren viele Weinfreaks historisch nicht so ganz korrekt, aber dafür spaßig: Die größten Geißeln der Menschheit kamen aus Amerika: Kapitalismus, Syphilis und Reblaus.
Die europäischen Weinbauregionen versanken in der Mitte des 19 . Jahrhunderts in Armut und großem Elend. Sozialer Abstieg und Hunger ließen immer
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