Terroir
mehr Winzer nach Amerika auswandern. Und zu Hause kam es zum weitgehenden Zusammenbruch der sozialen Strukturen, zu sinkenden Geburtenraten und steigender Kriminalität. Die Ärzte diagnostizierten in immer mehr Dörfern fortschreitende Infektionskrankheiten, Hautausschläge und zunehmende Trunkenheit mit „Nervenkrankheiten“, denn der Wein, der aus den unreifen Jahrgängen und pilzbefallenen Trauben gekeltert wurde,war oft unverkäuflich, sodass er in den Winzerfamilien selbst getrunken wurde.
In diesen Jahren wurde die Idee Jean-Antoine Chaptals, dem Wein durch Zuckerzusatz auf die Sprünge zu helfen, von Ludwig Gall aufgegriffen, einem sozial sehr engagierten Mitarbeiter der von den Preußen gegründeten Bezirksregierung in Trier. In seinem Buch Praktische Anleitung, sehr gute Mittelweine selbst aus unreifen Trauben … zu erzeugen schlägt er vor, nicht nur Zucker zwecks Erhöhung des Alkoholgehalts zu verwenden, sondern gleichzeitig die unreife Säure mit Wasser zu verdünnen. Wohlgemerkt, dem Mann ging es nicht um das Panschen des schnöden Mammons wegen, sondern um eine Überlebensstrategie für die Not leidende Winzerschaft. Das Verfahren wurde übrigens aufgegriffen und war – es ist kaum zu glauben, aber es stimmt – für einfache Weine der nördlichen Regionen Deutschlands bis 1984 weingesetzlich legal. Natürlich wurde das „Gallisieren“, die „Nasszuckerung“, nicht von allen Winzern praktiziert, und mit Gründung des Verbands Deutscher Naturweinversteigerer (heute Verband der Prädikatsweinerzeuger) formierte sich um die Jahrhundertwende in Deutschland die Gegenbewegung. Im Gegensatz zu Frankreich, dessen Weingesetzgebung die Weinqualität an bestimmte Weinberge und Weingüter knüpfte und gleichzeitig das Chaptalisieren unabhängig von der Qualitätsstufe in fast allen Appellationen erlaubte respektive auch heute noch erlaubt, machte sich für die deutsche Weingesetzgebung seit 1892 die Qualität im Wesentlichen an der Frage „nassverbessert“ oder „naturrein“ fest. Der mittlerweile verbotene Begriff naturrein sollte die ehrlichen Winzer schützen und dem Verbraucher die hohe Wertigkeit des Produkts kommunizieren. Im Verband der Prädikatsweinerzeuger VDP wird diese Tradition auch heute noch gepflegt, wenngleich die Frage, was naturrein ist, im Zeitalter von Food-Design ganz anders diskutiert wird.
Und die Nassverbesserung? Es ist unglaublich: Gut zwanzig Jahre lang konnte der Verbraucher in Europa sicher sein oder – sagen wir mal vorsichtig – zumindest einigermaßen sicher sein, dass selbst in den Kampftrinkerschoppen des billigsten Discounters niemand Wasser gekippt hatte. Das Ende 2006 ratifizierte Handelsabkommen hat nun aber festgelegt, dass jeder in den USA legal hergestellte Wein in die Europäische Gemeinschaft eingeführt werden darf. Und da in den USA ein Wasserzusatz erlaubt ist … Noch nicht einmal auf eine Beschränkung der Wassermenge auf fünf oder sieben Prozent konnten sich die Verhandlungspartner einigen. Und diese Vereinbarung gilt dann mauschelig-legal auch für Australien und Südafrika, also Länder, die ebenfalls unter zu hohen Alkoholgehalten ihrer Weine leiden und gern mal mit ein wenig Wasser nachhelfen. Und irgendwann wird dann ein europäischer Produzent auf Gleichstellung klagen … Die OIV, die Organisation International du Vin, die eigentlich vorhatte, den Weinbauländern der Neuen Welt die europäischen Standards aufzudrücken, sprich, nur solchen Weinen die Einfuhr in die Europäische Gemeinschaft zu erlauben, die nach hier geltenden Regeln hergestellt wurden, hat sich mit europäischer Hochnäsigkeit vergaloppiert und wurde durch australische und US-amerikanische Konzerne in die Knie gezwungen. Brave new world .
Aber, aber, warum sich denn so echauffieren? Das bisschen Wasser. Besteht nicht die Kunst des Bierbrauens unter anderem darin, die Stammwürze mit dem richtigen Anteil Wasser zu verdünnen? Das ist dann nicht gepanscht, sondern heißt Reinheitsgebot. Und wird nicht jedes Destillat, ob Doppelkorn oder Malt Whiskey, mit Wasser auf Trinkstärke herabgesetzt? Beim Schnaps geht das noch einen Schritt weiter. Des Deutschen Lieblingsdigestif Du-noch-wolle-eine-Grabba-isse-ganse-milde verdankt seinen weichen Geschmack schlicht und ergreifend dem zugesetzten Zuckerwasser.
Womit wir wieder in der Mitte des 19 . Jahrhundert bei Ludwig Gall in Trier gelandet sind. Die Stadt scheint ein heißes Pflaster gewesen zu sein, oder, wie es ein Zeitgenosse
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