Terroir
mittlerweile sogar darauf verzichten und beamen die notwendigen pflanzenstärkenden Informationen mit einer Reich’schen Orgonkanone in den Weinberg. Und der Schwefel im Wein? „Manchmal kommen wir ohne aus“, sagt Philippe, „manchmal brauchen wir ein wenig. Wir sehen das nicht so verbissen …“ Und während seine Frau Christel den Opa zum Abendessen ruft, fragt der Vater, ob jemand Interesse an seinem neuen Computerprogramm hat, mit dem er die Präparate festlegt. Und macht gleich noch eine energetische Fernbehandlung, um einen Keller in Deutschland zu entstören. Wo sind wir hier? Auf welchem Planet befinden wir uns? Das Steak auf dem Teller sieht sehr irdisch aus. Und der Wein? Tief und dunkel leuchten drei Cuvées aus unterschiedlichen Parzellen auf dem Tisch: Maréotis, Les Colonnades und Emergence. Kann der Kosmos so animalisch sein? Ein irdisches Getränkt so kosmisch?
W as ist und nicht ist und was oben, unten,
ich hab’s voll Wissensdurst herausgefunden,
doch was mich wirklich – wie könnt’s anders sein –
zutiefst bewegt hat. Das ist nur der Wein. Omar Chajjâm
Ob Erdakupunktur, Radiästhesie, Bachblüten, Feng-Shui, alles, was in irgendeiner Art und Weise mit sanften Energien oder Esoterik zu tun hat, wird momentan – mit Ausnahme des klösterlichen Weinbaus und der Vinifikation koscheren Weins – nicht nur in der öffentlichen Meinung als biologisch-dynamisch wahrgenommen, sondern auch in der Selbstdarstellung der Winzer meist so dargestellt. Ob das jetzt sinnvoll ist oder nicht. Es passt jedenfalls ins Schema. Es gibt konventionellen, biologischen und biologisch-dynamischen Weinbau. Bitte ankreuzen.
Und jetzt also auch noch Terroir. Vom Supermarkt bis zur Boutique. Die Regale quellen über. Das ist ganz und gar nicht im Sinne des Erfinders. Aber sollen wir auf diese Begriffe deshalb verzichten? Sollen wir die Begriffe Gesang und Schönheit abschaffen, nur weil Dieter Bohlen Sendezeiten im Privatfernsehen zugestanden werden? Viel besser ist es, den Begriff zu diskutieren, um ihn sinnvoll zu besetzen.
Fassen wir zusammen: Die Errungenschaften der Biotechnologie haben in der Weinszene die Vision der beliebigen Gestaltung von Geschmack in weiten Teilen Realität werden lassen. Diese Entwicklung wird sich in den nächsten Jahren durch Gentechnik und Nanotechnologie weiter fortsetzen und mit geschicktem Neuromarketing weitere Märkte erobern.
„Nicht alles, was aus der Traube stammt und gut schmeckt, ist deswegen auch Wein“, sagen schon heute nicht nur immer mehrWeinliebhaber und Winzer, sondern auch Persönlichkeiten wie der international renommierte Weinrechtler Professor Hans-Jörg Koch. Was ist also Wein? Wie bei der Frage „Was ist Kunst?“ gibt es auch hier unzählige Antworten. Wein ist ja noch nicht einmal aus rechtlicher Perspektive eindeutig definiert. Und aus wirtschaftlichem, kulturellem, religiösem, historischem und regionalem Blickwinkel gibt es jeweils genauso viel Definitionen, wie es sinnvolle Varianten gibt, das Phänomen Wein zu beschreiben.
Die Ökobewegung ist weder in ihren wissenschaftlich-logischen noch in ihren mythologisch-esoterischen Varianten in der Lage, auf die in den letzten Jahren immer mehr im Vordergrund stehenden kulturellen Fragen nach Echtheit, Authentizität und Ganzheitlichkeit ausreichende Antworten zu geben. Daher hat sich die Bewegung entwickelt, die wir heute mit dem Begriff Terroir zusammenfassen.
Diese neue Bewegung definiert sich allerdings nicht durch das Verändern oder Hinzufügen von Kriterien auf der To-do-Liste. Im Gegenteil. Die große Chance der Terroirbewegung besteht darin, gerade diese Haltung des Schwarz-Weiß-Denkens zu überwinden und in der Betrachtung eines so komplexen Gebildes wie Wein auch den Begriff der Komplexität zuzulassen. Schwarze Pädagogik zur Rettung der Welt, moralinsaures Leiden für den guten Zweck, maschinenstürmerisches Aufbäumen der „echten Winzer“, scholastische Suche nach der letzten Wahrheit – nein, die Idee Terroir erlaubt ein Mehr an Freiheit, versteht Wein als einen systemischen Begriff, traut sich, auf viele Fragen keine eindeutigen Antworten parat zu haben, lädt ein zur Emanzipation.
Schon das Wort selbst hat in diesem Zusammenhang einen großen Vorteil: Es ist nebulös. Neben seiner positiv besetzten französischen Konnotation ist es unpräzise und geheimnisvoll. Für viele eine Provokation, für viele eine fantastische Ausgangsbasis, sich dem Weinauf verschiedenen Ebenen nähern zu
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