Terror auf Stiles Island
trottete tapfer hinter Jenn her, trug ihre Einkaufstüten und kam sich fast wie ein Ehemann vor – ein Gefühl, das ihm nicht einmal unangenehm war. Aber er wusste, dass er früher oder später mit seinem dreckigen kleinen Geheimnis rausrücken musste – und hatte eine Heidenangst. Gewöhnlich hatte er seine Angst routiniertim Griff: Er wusste, sie war da, aber er ließ sich davon in seinem Verhalten nicht weiter beeinträchtigen. Diesmal war es, als würde die Angst ihn paralysieren.
»Du musst ja schwer Kohle verdienen«, sagte er.
Sie saßen an einem künstlichen Wasserfall, der sich neben dem Aufzug im ersten Stock befand.
»Ich bekomme vom Sender einen Kleidungszuschuss«, sagte Jenn, »und hab ihn noch nicht aufgebraucht. Wird dir langweilig?«
»Nein«, sagte Jesse. »Ich bin gern mit dir zusammen.«
Jenn lächelte, aber er hatte den Eindruck, als sei ihr Lächeln nicht so recht überzeugend. Sie schaute auf die Dekoration in einem der Schaufenster.
»Was hältst du von dem kleinen Anzug dort drüben?«, sagte sie. »Der mit den grauen Streifen.«
»Würde dir sicher gut stehen.« Er hielt den Atem an. »Ich hab dich neulich verfolgt, als du mit Tony Salt unterwegs warst.«
Jenn schaute weiterhin auf den Anzug mit den grauen Streifen, drehte dann aber langsam ihren Kopf zu ihm.
»Du hast mich verfolgt?«
»Genaugenommen hab ich dein Apartment überwacht. Hab gesehen, wie ihr kamt und wie er mit reinging.«
»Und?«
»Er blieb die Nacht da.«
Jenn lehnte sich auf der Bank zurück, starrte ihn aber immer noch an.
»Jesse«, sagte sie schließlich, »was … was zum Teufel fällt dir ein?«
Jesse biss die Zähne zusammen.
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Ich komm mir beschissen vor.«
Kein Zittern in seiner Stimme. Jenn starrte ihn noch immer an. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern kam und ließ sie Cent-Stücke in den Brunnen werfen. Sie ging weiter, doch die Kinder wollten noch bleiben. Eine lautstarke Diskussion folgte. Die Kinder zeterten, doch die Mutter zog sie schließlich weg.
»Du … hast … das … Recht«, sagte Jesse langsam, »mit jedem … auszugehen … und … mit jedem … zu schlafen.«
»Exakt«, sagte Jenn. »Dieses Recht habe ich.«
»Ich weiß nicht, warum ich’s getan habe«, sagte Jesse.
»Ich weiß nicht, warum du’s mir erzählst«, sagte Jenn.
»Weil es die Wahrheit ist.«
»Muss ich denn immer die ganze Wahrheit wissen?«
»Weiß nicht«, sagte Jesse, »aber ich muss jedenfalls mit der ganzen Wahrheit raus.«
Jenn lächelte. »Zumindest wissen wir nun, dass es dein Problem ist und nicht meins«, sagte sie.
Jesse starrte auf den künstlichen Wasserfall, der geräuschlos im künstlichen Brunnen verschwand.
»Ich werd’s nicht wieder tun«, sagte er schließlich.
Jenn konnte sehen, wie sich die Muskeln seines Unterkiefers verhärteten.
»Die Wahrheit sagen?«
Jesse schüttelte den Kopf.
»Das werd ich auch weiterhin machen«, sagte er. »Aber ich werd dir nicht mehr nachspionieren.«
»Warum musst du mir die Wahrheit erzählen, selbst wenn es eine unangenehme Wahrheit ist?«
Jesse schüttelte den Kopf, als wolle er nach durchzechter Nacht einen klaren Gedanken fassen. Jenn erinnerte sich daran, wie verbissen er sein konnte – was durchaus seine positiven Seiten hatte, aber nicht immer.
Noch einmal hakte sie nach: »Wo steht es geschrieben, dass du mir immer die Wahrheit sagen musst?«
»Ich mag keine Geheimnisse«, sagte Jesse.
Seine Stimme klang, als würde er die Worte einzeln durch den Mund pressen. Mein Gott, dachte Jenn, wie schwer ihm das alles fallen muss. Sie beugte sich vor und berührte seinen Arm.
»Es ist nicht leicht für dich, Jesse«, sagte sie. »Du kämpfst mit dem Alkohol und du kämpfst mit dieser Geschichte hier. Es muss schwer für dich sein.«
»Wenn ich diesen Kampf nicht gewinne, werde ich auch den Kampf gegen den Alkohol verlieren«, sagte Jesse – und wünschte, er hätte die Worte nicht gesagt, kaum dass er sie ausgesprochen hatte.
»Ich weiß, aber dabei kann ich dir nicht helfen«, sagte Jenn. »Ich kann nicht nur mit dir zusammenleben, um dich vom Alkohol abzuhalten.«
»Ich hätte es nicht sagen sollen. Und ich hätte dir auch nicht nachspionieren sollen.« Jesse lachte höhnisch. »Ich hab wohl gerade ’nen super Lauf.«
»So schlimm ist es auch nicht«, sagte Jenn.
»Es war dumm, dir nachzuspionieren«, sagte Jesse.
»Natürlich war es das, aber letztlich ändert es nichts an unserer Beziehung. Ich
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