Terror
kümmern.
Auf dem Lastdeck war es noch dunkler und kälter als auf dem Orlop.
Irving hasste die Last. Sie erinnerte ihn mehr noch als seine eisige Koje und das trüb beleuchtete, nie wirklich warme Unterdeck an ein Grab. Hier herunter stieg er nur, wenn er unbedingt musste – zum Beispiel wenn er das Verstauen von eingehüllten Leichen oder Leichenteilen in der Totenkammer zu beaufsichtigen hatte. Und jedes Mal fragte er sich, ob bald jemand das Verstauen seiner Leiche hier unten beaufsichtigen würde. Mit erhobener Lampe steuerte er durch das Matsch- und Schmelzwasser nach achtern.
Der Kesselraum schien leer, doch dann entdeckte Irving den Mann auf der Pritsche beim Steuerbordschott. Hier leuchtete keine Laterne, nur durch das Gitter einer der vier geschlossenen Kesseltüren flackerte es rötlich. In diesem trüben Schein wirkte der lang hingestreckte Mann auf der Pritsche wie tot. Seine
offenen Augen starrten zur niedrigen Decke hinauf, ohne zu blinzeln. Er wandte auch nicht den Kopf, als Irving den Raum betrat und seine Lampe an den Haken bei der Kohlenschütte hängte.
»Was führt Sie hier herunter, Leutnant Irving?« Noch immer blieb James Thompson vollkommen reglos. Irgendwann im vergangenen Monat hatte der Maschinist aufgehört, sich zu rasieren, und überall auf seinem dünnen, weißen Gesicht spross inzwischen ein flaumiger Bart. Die Augen des Mannes lagen tief in ihren dunklen Höhlen. Sein Haar war zerzaust und strähnig von Ruß und Schweiß. Das Feuer war so stark heruntergedreht, dass die Temperatur selbst hier im Kesselraum nahe am Gefrierpunkt war. Trotzdem lag Thompson nur in Hose, Unterhemd und Hosenträgern da.
»Ich bin auf der Suche nach Silence«, antwortete Irving.
Der Mann auf der Pritsche starrte weiter die Deckenbalken an.
»Lady Silence«, setzte der junge Leutnant hinzu.
»Die Eskimohexe«, sagte der Maschinist.
Irving räusperte sich. In dem Raum hing der Kohlenstaub so dicht, dass ihm das Atmen schwer wurde. »Haben Sie sie vielleicht gesehen, Mr. Thompson? Oder irgendwas Ungewöhnliches gehört?«
Thompson, der noch immer nicht geblinzelt hatte, lachte leise in sich hinein. Es war ein verstörender Laut – wie das Rasseln kleiner Steine in einem Glas –, der mit einem Husten endete. »Hören Sie doch selbst.«
Irving wandte den Kopf nach hinten. Es waren nur die üblichen Geräusche, wenn sie hier in der finsteren Last auch lauter klangen: das leise Wimmern des herandrängenden Eises, das lautere Stöhnen der eisernen Tanks und Verstärkungen vor und hinter dem Kesselraum, das ferne Heulen des weit oben tobenden Schneesturms, das Krachen herabstürzender Eisbrocken, das
durch zitternde Schiffsplanken übertragen wurde, das Dröhnen der in ihren Befestigungen erschütterten Untermasten, vereinzeltes Scharren aus dem Schiffsrumpf und ein ständiges Zischen und Kreischen aus dem Kessel und den Rohren.
»Auf diesem Deck atmet noch jemand anderes«, ergänzte Thompson. »Hören Sie es nicht?«
Irving spitzte die Ohren, aber er nahm kein Atmen wahr. Allerdings musste er zugeben, dass der Kessel wie das Keuchen eines großen Lebewesens klang. »Wo sind Smith und Johnson?« Die Frage des Leutnants bezog sich auf die beiden Heizer, die eigentlich rund um die Uhr mit Thompson arbeiteten.
Der Maschinist zuckte mit den Achseln. »Inzwischen muss so wenig Kohle geschaufelt werden, da brauche ich sie bloß noch wenige Stunden am Tag. Meistens bin ich allein hier unten und krieche zwischen den Rohren und Ventilen herum. Ich flicke, repariere und hämmere, damit dieses … Ding … weiterläuft und ein paar Stunden am Tag warmes Wasser durch das Unterdeck pumpt. In drei, spätestens vier Monaten kann ich mir die Mühe sparen. Für den Dampfantrieb haben wir ohnehin schon keine Kohle mehr. Bald haben wir auch keine mehr zum Heizen.«
Irving hatte diese Berichte bereits in der Offiziersmesse gehört, aber das Thema interessierte ihn kaum. Drei Monate waren eine Ewigkeit. Im Augenblick hatte er sich zu vergewissern, dass Lady Silence nicht an Bord war, und dann hatte er dem Kapitän Meldung zu erstatten. Wenn sie nicht an Bord war, musste er draußen nach ihr suchen. Und dann musste er schauen, wie er die nächsten drei Monate überlebte. Um das Ende der Kohlevorräte konnte er sich kümmern, wenn es so weit war.
»Haben Sie schon die Gerüchte gehört, Leutnant Irving?« Noch immer hatte der Maschinist weder geblinzelt noch den Kopf gedreht.
»Nein, Mr. Thompson, welche
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