Terror
her.
Obwohl er völlig durchfroren war, weil die ungewohnte Wärme in dem Gedränge auf der Erebus die Kälte draußen irgendwie noch schlimmer gemacht hatte, blieb Crozier bis zur Wachablösung an Deck. Der diensttuende Offizier war der Eislotse Thomas Blanky. Unter Deck waren die Männer mit dem sonntäglichen Nähen und Flicken ihrer Sachen beschäftigt und freuten sich bereits auf den Nachmittagstee und das aus gesalzenem und gekochtem Stockfisch und Zwieback bestehende Abendessen, weil sie hofften, dass es zu ihrer halben Pinte Ale vielleicht auch eine Unze Käse gab.
Der Wind hatte aufgefrischt und trieb den Schnee über die schrundigen Eisfelder vor dem gewaltigen Berg, der den Blick auf die Erebus im Nordwesten verstellte. Wolken schoben sich vor das Polarlicht und die Sterne. Die nachmittägliche Nacht wurde zusehends dunkler. Schließlich konnte Crozier den Whiskey in seiner Kajüte nicht länger aus seinen Gedanken verbannen und verschwand nach unten.
20
Blanky
70°05′ NÖRDLICHE BREITE | 98°23′ WESTLICHE LÄNGE
5. DEZEMBER 1847
E ine halbe Stunde, nachdem sich der Kapitän und die anderen Heimkehrer nach unten begeben hatten, konnte Thomas Blanky in dem dichten Schneegestöber nicht einmal mehr die Wachlaternen und den Großmast erkennen. Der Eislotse war froh, dass der Sturm erst so spät heraufgezogen war; eine Stunde früher, und der Heimmarsch zur Terror wäre zu einer hundsgemeinen Plackerei geworden.
Die Hundewache unter Blankys Befehl hatten an diesem schwarzen Abend der fünfunddreißigjährige Alexander Berry – ein nicht besonders intelligenter Mann, wie Blanky wusste, aber zuverlässig und ein geschickter Kletterer in den Wanten – sowie John Handford und David Leys. Leys, der den Bugposten hielt, war erst Ende November vierzig geworden, und die Männer hatten ein lautstarkes Backsfest mit ihm gefeiert. Aber Leys war nicht mehr der, der vor zweieinhalb Jahren auf der Terror angeheuert hatte. Anfang November, nur wenige Tage bevor dem Gefreiten Heather auf der Steuerbordwache das Gehirn zerquetscht wurde und Bill Strong und der junge Tom Evans verschwanden, hatte sich Davey Leys einfach in seine Hängematte gelegt und keinen Ton mehr von sich gegeben. Fast drei Wochen
lang war er einfach weg . Seine Augen starrten ins Nichts, und er reagierte weder auf Stimmen, Rufe oder Flammen, weder auf Schütteln noch Kneifen. Die meiste Zeit lag er im Lazarett neben dem armen Seesoldaten Heather, der immer noch atmete, obwohl sein Schädel ein riesiges Loch hatte und ein Teil seines Gehirns fehlte. Während Heather schnaufend Luft in seine Lungen pumpte, lag Davey einfach nur still da und starrte ohne Blinzeln zur Decke, als wäre er mausetot.
So plötzlich der Anfall gekommen war, so plötzlich war er auch wieder vorbei, und Davey war wieder der Alte. Zumindest fast. Sein Appetit war zurückgekehrt, nachdem sein Körper in der Zeit seiner geistigen Abwesenheit fast zwanzig Pfund verloren hatte, aber der Humor des alten Davey Leys war genauso verschwunden wie sein unbekümmertes, knabenhaftes Lächeln und die Bereitschaft, sich beim Backen und Banken über alles Mögliche zu unterhalten. Außerdem war sein Haar, das noch in der ersten Novemberwoche eine rötlich braune Farbe hatte, seit dem Erwachen aus seiner Erstarrung schlohweiß. Manche Männer behaupteten, dass ihn Lady Silence verhext hatte.
Thomas Blanky, der seit über dreißig Jahren Eislotse war, glaubte nicht an Hexenzauber. Er schämte sich für die Matrosen, die als eine Art Hexenamulette die Klauen, Tatzen, Zähne und Schwänze von Polarbären trugen. Ihm war zu Ohren gekommen, dass einige der ungebildeten Seeleute, die sich besonders um den Kalfaterersmaat Cornelius Hickey scharten, für den Blanky nie viel übriggehabt hatte, verbreiteten, dass das Wesen aus dem Eis eine Art Dämon oder Teufel sei, und einige aus Hickeys Gruppe brachten dem Ungeheuer bereits Opfer dar, unten in der Last vor dem Kabelgatt. In diesem Verschlag verbarg sich ja bekanntlich Lady Silence, die von den meisten für eine Hexe gehalten wurde. Hickey und sein riesenhafter schwachköpfiger Freund Magnus Manson waren offenbar die Hohepriester dieses Kults, oder vielmehr war Hickey der Priester und
Manson der Messdiener, der die Befehle seines Meisters ausführte. Nur sie durften anscheinend die verschiedenen Opfergaben hinunter ins Lastdeck bringen. Erst vor kurzem war Blanky dort hinab in den finsteren Schwefelgestank gestiegen und hatte
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