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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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waren. Doch der Walfänger Pluribus befand sich in berechenbarem Packeis und trieb über siebenhundert Meilen weit nach Süden, bis sie gegen Ende dieses Sommers die Eisgrenze erreichten. Von dort aus segelten sie weiter durch breiiges Eis, schmale Rinnen und von Treibeis umschlossene Wasserlöcher, die von den Russen als Polynjas bezeichnet wurden, gelangten schließlich in offenes Wasser und konnten Kurs auf Grönland nehmen, um das Schiff zu überholen.
    Aber hier und jetzt sah die Sache ganz anders aus. In dieser gottverlassenen weißen Hölle war so etwas nicht möglich. Das Packeis hier war, wie er den Kapitänen vor einem Jahr und drei Monaten erklärt hatte, eher wie ein endloser Gletscher,
der sich unermüdlich vom Nordpol herunterschob. Durch die überwiegend unerforschte kanadische Landmasse im Süden, King-William-Land im Südwesten und die unerreichbar ferne Boothia-Halbinsel im Osten und Nordosten gab es keine richtige Eisdrift. Dies hatten Crozier, Fitzjames, Reid und Blanky bei ihren mehrfachen Sextantenmessungen immer wieder bestätigt gefunden. Die einzige Bewegung war ein endloses Kreiseln in einem Gebiet von fünfzehn Meilen. Sie waren wie Fliegen, die auf einer jener metallenen Musikscheiben unten in der Großen Messe klebten und sich nicht vom Fleck rühren konnten. Die Reise führte nirgendwohin. Immer wieder kamen sie an die gleiche Stelle zurück.
    Obwohl sie sich eigentlich auf See befanden, war das Packeis hier fast wie das Festeis an der Küste, das Blanky kannte: Nicht nur drei Fuß dick wie üblich, sondern zwanzig bis fünfundzwanzig Fuß stark umgab es die Schiffe. Es war so mächtig, dass nicht einmal mehr die Feuerlöcher existierten, die sonst alle im Eis eingeschlossenen Schiffe frei hielten.
    Das Eis gestattete ihnen nicht mehr, ihre Toten zu bestatten.
    Thomas Blanky überlegte, ob er sich zum Werkzeug des Bösen  – oder vielleicht nur der Torheit – gemacht hatte, als er seine über dreißigjährige Erfahrung als Eislotse dazu genutzt hatte, um die einhundertsechsundzwanzig Mann über die unglaubliche Strecke von zweihundertfünfzig Meilen durchs Eis an diesen Ort zu führen, an dem nur der Tod auf sie wartete.
    Plötzlich unterbrach ein Ruf seine Gedanken. Dann krachte ein Flintenschuss. Und ein zweiter Ruf erschallte.

21
Blanky
    70°05′ NÖRDLICHE BREITE | 98°23′ WESTLICHE LÄNGE
5. DEZEMBER 1847
     
     
     
    M it den Zähnen zerrte sich Blanky den rechten Fäustling von der Hand, ließ ihn fallen und hob seine Flinte. Nach herkömmlichem Brauch waren die wachhabenden Offiziere nicht bewaffnet, aber Kapitän Crozier hatte dieser Tradition mit einem einzigen Befehl ein Ende gesetzt. Seither mussten alle Männer an Deck ständig bewaffnet sein. Da er jetzt nur noch einen dünnen Wollhandschuh trug, konnte Blanky den Finger durch den Abzugbügel stecken. Sofort spürte er die beißende Kälte des Winds an der Hand.
    Auf dem Posten, wo der Matrose Berry Wache hielt, war kein Laternenschimmer mehr zu erkennen. Der Flintenschuss hatte geklungen, als wäre er von der Backbordseite des Persenninggerüsts auf dem Mittschiff gekommen, doch der Eislotse wusste natürlich, dass Wind und Schnee Geräusche verzerren konnten. Der Schimmer der Lampe auf dem Steuerbordposten war zwar noch zu sehen, aber er schwankte und bewegte sich.
    Blanky rief nach backbord: »Berry?« Er spürte fast, wie die beiden Silben vom heulenden Sturm achteraus geschleudert wurden. »Handford?«
    Nun verschwand auch steuerbord das Licht der Laterne. Davey
Leys’ Lampe vorn am Bug wäre in einer klaren Nacht jenseits des Mittschiffzelts zu sehen gewesen, doch von einer klaren Nacht konnte natürlich nicht die Rede sein.
    »Handford?« Mit der Flinte in der rechten und der Laterne, die er vom Achtersteven genommen hatte, in der linken Hand näherte sich Blanky der Backbordseite der langen Zeltplane. Er hatte drei zusätzliche Schrotpatronen in der rechten Tasche seines Überrocks, doch er wusste aus Erfahrung, wie lange man bei dieser Kälte brauchte, um sie herauszukramen und in den Lauf zu schieben.
    »Berry!«, brüllte er. »Handford! Leys!« Eine Gefahr in dieser Situation bestand darin, dass die drei Männer in der Dunkelheit und dem Sturm auf dem krängenden, glatten Deck aufeinander schossen. Allerdings vermutete er, dass Alexander Berry seine Waffe bereits abgefeuert hatte. Einen zweiten Flintenknall hatte er nicht gehört. Dennoch war sich Blanky darüber im Klaren, dass er sich vor Handford und

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