Terror
Temperatur von minus achtundfünfzig Grad. Es regte sich kein Lüftchen. In der Nacht waren Wolken aufgezogen und bedeckten nun den Himmel von Horizont zu Horizont. Die Dunkelheit war fast undurchdringlich.
Die meisten Leute wären am liebsten schon nach dem Frühstück aufgebrochen, das seit der strengen Rationierung nur noch aus einem einzigen Schiffszwieback mit Marmelade und einer kleineren Portion Gerstenbrei mit einem Löffel Zucker bestand. Aber Crozier hatte die Erlaubnis zur allgemeinen Teilnahme an dem Maskenball erst für die Zeit nach der Erledigung aller Schiffspflichten und dem Abendessen erteilt. Immerhin hatte er genehmigt, dass die Männer, die an diesem Tag nicht zum Scheuern des Unterdecks, für die Wache, zum Enteisen der Takelage, zum Freischaufeln des Decks, für Reparaturen am Schiff oder an den Wegmalen und zum Unterricht eingeteilt waren, an den letzten Vorbereitungen für den Karneval mitwirken konnten. So zogen nach dem Frühstück ungefähr ein Dutzend Matrosen in Begleitung von zwei Seesoldaten mit Büchsen hinaus in die Dunkelheit.
Als mittags der inzwischen noch stärker verdünnte Grog ausgegeben wurde, war die Aufregung der an Bord verbliebenen Besatzung fast mit Händen zu greifen. Crozier ließ sechs weitere Männer gehen, die mit ihren Pflichten fertig waren, und stellte Leutnant Hodgson zu ihrer Begleitung ab.
Als er am Nachmittag auf dem Achterdeck hin und her lief, konnte der Kapitän schon den hellen Schein der Fackeln gleich hinter dem hohen Eisberg ahnen, der sich zwischen den beiden Schiffen erhob. Noch immer wehte kein Wind, und die Sterne waren nicht zu sehen.
Beim Abendessen waren die Männer so zappelig wie kleine Kinder vor Weihnachten. In Windeseile schlangen sie ihre Mahlzeit hinunter, die an diesem »mehllosen« Freitag nur aus Stockfisch, Büchsengemüse und zwei Fingerbreit Ale bestand. Crozier brachte es nicht übers Herz, sie an Bord festzuhalten, solange die Offiziere noch bei ihrem gemächlicheren Mahl in der Messe saßen. Außerdem warteten die Offiziere schon genauso gespannt wie die Seeleute auf den Maskenball. Selbst der Maschinist James
Thompson, der sich ansonsten für kaum etwas anderes interessierte als die Dampfmaschine im Lastdeck und der so stark abgemagert war, dass er einem wandelnden Skelett glich, hatte sich ausgehfertig bekleidet auf dem Unterdeck eingefunden.
Um sechs Glasen der Hundewache hatte sich Crozier in so viele Schichten gewickelt wie nur möglich und schritt noch ein letztes Mal die acht Mann starke Wache ab, die unter dem Kommando des Ersten Unterleutnants Hornby auf dem Schiff zurückgelassen wurde. Dieser Trupp sollte noch vor Mitternacht von dem jungen Irving mit drei Seeleuten abgelöst werden. Dann stiegen sie die Eisrampe zur gefrorenen See hinunter und marschierten zügig durch minus sechzig Grad kalte Luft in Richtung Erebus. Die Schar von knapp dreißig Männern fächerte sich in der Dunkelheit zu einer langen Schlange auf, und Crozier fand sich in einer kleinen Gruppe mit Leutnant Irving, dem Eislotsen Blanky und mehreren Unteroffizieren wieder.
Blanky kam mit seiner gepolsterten Krücke unter dem rechten Arm nur mühsam voran, weil er die Ferse seines rechten Fußes verloren hatte und auf der Prothese aus Holz und Leder noch nicht richtig gehen konnte. Trotzdem schien er bester Dinge.
»Guten Abend, Kapitän Crozier«, begrüßte ihn der Eislotse. »Lassen Sie sich nicht aufhalten, Sir. Meine Maaten hier – Fat Wilson, Kenley und Billy Gibson – bringen mich schon gut rüber.«
»Sie sind doch kaum langsamer als wir, Mr. Blanky«, erwiderte Crozier. Während sie an den Fackeln vorbeizogen, die auf jedem fünften Eismal angezündet worden waren, fiel ihm auf, dass sich noch immer kein Lüftchen rührte. Die Flammen brannten fast reglos. Der Weg war festgetrampelt, und durch die Eisrücken waren Breschen geschaufelt und gehackt worden, um einen leichten Durchgang zu ermöglichen. Der eine halbe Meile vor ihnen aufragende Eisberg wurde von der anderen Seite von vielen
Fackeln angestrahlt und schien von innen her in die Nacht hinauszuleuchten wie ein phantastischer Belagerungsturm. Crozier dachte unwillkürlich an irische Jahrmärkte aus seiner Jugend. Die Luft heute Nacht war zwar um einiges kälter als die einer Sommernacht in Irland, aber sie war von einer ähnlichen Spannung erfüllt. Er warf einen Blick nach hinten, um sich zu vergewissern, dass die Gefreiten Hammond und Daly sowie Sergeant Tozer mit
Weitere Kostenlose Bücher