Terror
der junge Offizier schien auf einmal sehr auf der Hut vor Manson und dem Kalfaterersmaat. Hickey bemerkte mehrere besorgte Blicke, die der junge Schnösel Magnus zuwarf, ehe sie verschiedenen Suchtrupps zugeteilt wurden. Ob Irving in der halben Sekunde vor dem ganzen Geschrei und dem Schuss aus dem Augenwinkel die erhobenen Arme Mansons wahrgenommen hatte oder ob der Offizier einfach nur ahnte, dass da irgendetwas nicht stimmte, war letztlich gleichgültig. Auf jeden Fall stand fest, dass es von nun an nicht mehr so leicht sein würde, ihn in einen Hinterhalt zu locken.
Dennoch musste es sein. Hickey befürchtete, dass dieser neu erwachte Argwohn Irving dazu treiben konnte, dem Kapitän doch noch zu melden, was er unten auf dem Lastdeck beobachtet hatte. Das durfte der Kalfaterersmaat nicht zulassen. Es war weniger die Strafe für Sodomie, die ihn störte; es kam nur noch selten vor, dass Seeleute deswegen gehängt oder von der gesamten Besatzung ausgepeitscht wurden. Der Kalfaterersmaat Cornelius Hickey hatte vielmehr Angst vor der Schande. Er wollte nicht als Arschficker eines Schwachkopfs dastehen.
Er musste warten, bis Irving wieder achtloser wurde, und ihn dann, falls nötig, selbst erledigen. Auch wenn die Schiffsärzte feststellen sollten, dass der Mann ermordet worden war, spielte das keine Rolle. Auf dieser Expedition waren schon viel schrecklichere Dinge passiert. Da war Irving nicht mehr als eine von etlichen Leichen, mit der man sich nach Einsetzen des Tauwetters zu befassen hatte.
Robert Orme Sargent wurde nicht gefunden. Die Spur aus Blut und Kleiderfetzen endete auf halber Strecke vor dem hoch aufragenden Eisberg. Doch wenigstens kam bei der Suche kein weiteres Besatzungsmitglied um. Einige Männer verloren Zehen, und alle schlotterten vor Kälte und hatten Frostbeulen, als die Jagd eine Stunde nach Abendessenszeit schließlich abgeblasen wurde. An diesem Nachmittag bekam Hickey Leutnant Irving nicht mehr zu Gesicht.
Wieder war es Magnus Manson, der ihn überraschte, als sie zurück zur Terror stapften. In ihrem Rücken heulte der Wind, und die neben ihnen marschierenden Seesoldaten hielten ihre Büchsen im Anschlag.
Hickey merkte, dass der schwachsinnige Hüne neben ihm weinte. Die Tränen froren sofort an seinen bärtigen Wangen fest.
»Was haste denn, Mann?«, fragte Hickey.
»Es is einfach so traurig, Cornelius, soo traurig.«
»Was ist traurig?«
»Der arme Mr. Sargent.«
Hickey warf seinem Gefolgsmann einen Blick zu. »Hab gar nich gewusst, dass du so eine Schwäche für die verdammten Offiziere hast, Magnus.«
»Hab ich ja gar nich, Cornelius. Ehrlich, die könn von mir aus alle vor die Hunde gehen. Aber Mr. Sargent is aufm Eis gestorm.«
»Na und?«
»Da kann doch sein Geist nich mehr zurückfinden aufs Schiff. Und nach der ganzen Sucherei hat Kap’tän Crozier gesagt, dass wir alle heute Abend nen Extraschluck Rum kriegn. Und das macht mich einfach so traurig, dass sein Geist jetzt nich mehr dabei sein kann. Wo Mr. Sargent sein Rum doch immer so gern gehabt hat, Cornelius.«
24
Crozier
70°05′ NÖRDLICHE BREITE | 98°23′ WESTLICHE LÄNGE
31. DEZEMBER 1847
H eiligabend und Weihnachten auf der Terror gingen still und fast unmerklich vorüber, doch als Entschädigung war für Silvester der zweite Große Venezianische Karneval geplant.
Vor Weihnachten konnten die Männer vier Tage lang das Schiff nicht verlassen, weil ununterbrochen Schneestürme tobten, so heftig, dass die Wachzeiten auf eine Stunde verkürzt werden mussten. Obwohl Mr. Diggle aus den letzten Vorräten an Schweinefleisch und Hasenpfeffer, die in Pökelfässern konserviert waren, auf phantasievolle Weise ein Festmenü zubereitete, waren die Feiertage unter Deck geprägt von Trübsinn und Lethargie. Dazu hatte der Koch mit Unterstützung der Stewards William Gibson und Thomas Armitage und unter Aufsicht der beiden Schiffsärzte aus den besser erhaltenen Goldner-Büchsen eine Auswahl getroffen, die Schildkrötensuppe, Bœuf à la Flamande, getrüffelten Fasan und Kalbszunge umfasste. Zum Nachtisch an beiden Abenden hatten Diggles Galeerensklaven den schlimmsten Teil des Schimmels von den noch verbliebenen Käsestücken geschabt und geschnitten, und Kapitän Crozier hatte die letzten fünf für besondere Anlässe zurückgelegten Flaschen Weinbrand aus den Beständen der Spirituslast beigesteuert.
Trotzdem blieb die Stimmung düster wie in einer Gruft. Sowohl die Offiziere achtern in ihrer
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