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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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auftauchte, im Kabelgatt der Terror schon Minusgrade.
    Und natürlich konnte sie ebenso wenig im Mannschaftslogis schlafen, auch wenn zu der Zeit schon die erste Hängematte frei geworden war.
    Bei den Offizieren also? Trotz der beengten Verhältnisse wäre das vielleicht möglich gewesen. Aber Leutnant Little und sein Kapitän waren sich schnell einig, dass die Anwesenheit einer Frau, die nur durch wenige dünne Wände und Schiebetüren von den schlafenden Männern getrennt war, zerrüttend wirken konnte.
    Was dann? Man konnte ihr wohl kaum einen Schlafplatz zuweisen und die ganze Zeit einen bewaffneten Posten davor aufstellen.
    Schließlich kam Edward Little auf die Idee, einen Teil der Vorräte in der eigentlich für das Lazarett reservierten Vorpiek umzuschichten, so dass die Frau eine Art Höhle als Schlafplatz bekam. Der Einzige, der immer die ganze Nacht wach war, war Mr. Diggle, der pflichtbewusst Zwieback zubereitete und Frühstücksfleisch briet, und falls der Koch überhaupt je eine
Schwäche für Damen gehabt hatte, dann war diese Zeit offenbar längst vorbei. Außerdem, überlegten Leutnant Little und Kapitän Crozier, würde es ihr Gast in der Nähe des Herds warm haben.
    Und so kam es auch. Aber die ungewohnte Wärme war für Lady Silence so unangenehm, dass sie gezwungen war, splitternackt auf den Fellen in ihrer kleinen Höhle aus Kisten und Fässern zu schlafen. Dies hat der Kapitän durch Zufall entdeckt, und das Bild hat sich ihm eingeprägt.
    Crozier nimmt eine Laterne vom Haken und zündet sie an. Dann öffnet er die Luke und steigt über den Niedergang nach unten zum Orlopdeck, bevor er in der Hitze zu schmelzen anfängt wie einer von diesen Eisblöcken auf dem Herd.
    Zu sagen, dass es auf dem Orlopdeck kalt ist, wäre die Art von Untertreibung, wie Crozier sie vielleicht vor seiner ersten Reise in die Arktis geäußert hätte. Mit der Strecke von sechs Fuß, die er auf der Treppe zurücklegt, fällt die Temperatur um mindestens dreißig Grad. Dunkelheit umgibt ihn.
    Wie immer nimmt sich Crozier eine Minute Zeit, um sich umzusehen. Seine Laterne wirft nur einen schwachen Lichtkreis, der hauptsächlich die Nebelschwaden seines Atems beleuchtet. Um ihn herum befindet sich ein Labyrinth aus Schiffsvorräten in Kisten, Tonnen, Büchsen, Fässern, Kohlensäcken und segeltuchbedeckten Haufen, das vom Deck bis zu den Balken reicht. Doch selbst ohne Laterne würde Crozier den Weg durch die von Rattenpfiffen erfüllte Finsternis finden, denn er kennt jeden Zoll seines Schiffs. Bisweilen – vor allem spätnachts, wenn das Eis träge ächzt – muss Francis Rawdon Moira Crozier einsehen, dass die HMS Terror ihm zugleich Gemahlin, Mutter, Braut und Hure ist. Diese intime Kenntnis einer Dame aus Eiche und Eisen, Werg und Ballast, Segeltuch und Messing ist die einzige wahre Ehe, die er je erleben wird. Wie konnte er sich nur bei Sophia etwas anderes einbilden?

    Zu anderen Zeiten, noch später in der Nacht, wenn das Ächzen des Eises in Schreien übergeht, beschleicht Crozier das Gefühl, dass sich das Schiff in ihn selbst verwandelt. Dort draußen, jenseits der Decks und des Schiffsrumpfs, lauert der Tod. Die ewige Kälte. Hier drinnen aber, eingeschlossen im Eis, schlägt das Herz weiter, solange es noch einen Funken Wärme und Unterhaltung, Bewegung und Vernunft gibt.
    Doch tiefer ins Schiff vorzudringen ist, als würde man zu tief in den eigenen Körper und Geist vordringen. Was man dort antrifft, ist vielleicht nicht immer angenehm. Das Orlopdeck ist der Bauch. Hier sind die Nahrungsmittel und die nötigen Vorräte gelagert, allesamt in der vermeintlich richtigen Reihenfolge ihres Gebrauchs verstaut und leicht zu erreichen für jene, die von Mr. Diggles Schreien und Schlägen hier heruntergejagt werden. Im weiter unten gelegenen Lastdeck, wo er jetzt hinwill, befinden sich die Gedärme und Nieren – die Wassertanks, der größte Teil der Kohlereserven und weiterer Proviant. Am meisten beunruhigt Crozier allerdings der Vergleich mit dem Geist. Ein Leben lang hat ihn ein Hang zur Melancholie verfolgt und geplagt, eine geheime Schwäche, die sich durch die zwölf Winter in der arktischen Finsternis noch verstärkt hat und nach der Zurückweisung durch Sophia Cracroft zu einem schwelenden Schmerz geworden ist. Crozier setzt das teilweise beleuchtete, gelegentlich beheizte und immerhin noch bewohnbare Unterdeck mit dem Teil seiner selbst gleich, der noch bei Verstand ist. Doch in letzter Zeit hält er

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