Terror
Leben kostete.
Doch dann hatte Crozier die Mehrheit der Männer auf seine Seite gezogen, allein mit dem Argument, dass Silence der einzige Mensch an Bord war, der sich auf die Jagd und das Fischen auf dem Eis verstand. Irving hatte einen stummen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen.
Doch am Tag nach dieser Machtprobe hatte die Eskimofrau das Schiff verlassen und kam danach nur noch jeden zweiten oder dritten Tag, um sich einen Zwieback oder eine Kerze zu holen. Jedes Mal verschwand sie wieder im Eis. Wo sie lebte und was sie dort draußen trieb, war ein völliges Rätsel.
In dieser Nacht war es nicht allzu dunkel auf dem Eis. Oben tanzte hell das Polarlicht, und der Mond schien so gleißend, dass die Eiszinnen tintenschwarze Schatten warfen. Im Gegensatz zum ersten Mal, als er Silence gefolgt war, hatte sich Irving heute nicht aus eigenem Antrieb auf die Suche begeben. Der Kapitän hatte ihn dazu angehalten, das geheime Versteck des Eskimoweibs auf dem Eis aufzuspüren, wenn dies ohne große Gefahr möglich war.
»Ich habe den Männern erklärt, dass sie Fähigkeiten besitzt, mit denen wir auf dem Eis überleben könnten, und das war mein
voller Ernst«, hatte Crozier in seiner Kajüte so leise zu Irving gesagt, dass sich der Leutnant vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. »Aber wir müssen möglichst bald herausfinden, ob und wie sie an das frische Fleisch kommt – noch bevor wir hinaus aufs Eis ziehen. Dr. Goodsir hat mir mitgeteilt, dass uns der Skorbut alle dahinraffen wird, wenn wir nicht vor dem Sommer frisches Wild finden.«
»Aber wenn ich sie nicht direkt beim Jagen beobachte«, flüsterte Irving, »wie soll ich ihr das Geheimnis dann entlocken, Sir? Sie kann doch nicht reden.«
»Lassen Sie sich etwas einfallen, Leutnant Irving.« Mehr hatte Crozier nicht dazu gesagt.
Und nun hatte sich seit diesem Gespräch zum ersten Mal die Gelegenheit für Irving ergeben, sich etwas einfallen zu lassen.
In seiner ledernen Umhängetasche hatte der Leutnant ein paar Lockmittel, für den Fall, dass er Silence fand und sich irgendwie mit ihr verständigen konnte. Mehrere sorgfältig in eine Serviette gewickelte Stücke Zwieback, die weitaus frischer waren als das ungezieferverseuchte Zeug, das er zum Abendessen gekaut hatte. Außerdem hatte Irving ein wunderschönes orientalisches Seidentaschentuch mitgenommen, das ihm seine reiche Londoner Freundin kurz vor dem Abschied geschenkt hatte. Und in dieses reizende Taschentuch hatte er etwas ganz Besonderes eingeschlagen: ein kleines Töpfchen Pfirsichmarmelade.
Der Schiffsarzt Goodsir hatte die Marmelade gehortet und verteilte sie nun als Mittel gegen Skorbut. Dieser Leckerbissen war eine der wenigen Speisen, bei denen die Eskimofrau jemals Begeisterung gezeigt hatte. Das Funkeln in ihren Augen, als sie einen Klecks Marmelade auf ihren Zwieback erhielt, war Irving nicht entgangen. So hatte er im vergangenen Monat ein Dutzend Mal seine Marmeladenportion weggekratzt, um die
kostbare Menge zusammenzubringen, die er nun in dem Porzellantöpfchen seiner Mutter bei sich trug.
Irving war um den Bug herum zur Backbordseite gestapft und marschierte von dort aus auf ein Gewirr von Zacken und kleinen Eisbergen zu, das ungefähr hundert Faden südlich des Schiffs wie eine weiße Spielart von Birnams nach Dunsinan vorrückendem Wald aufragte. Er wusste, dass er Gefahr lief, zum nächsten Opfer des Ungeheuers zu werden, aber dieses hatte sich seit fünf Wochen nicht einmal mehr aus der Ferne blicken lassen. Seit dem Karneval hatte es sich kein Besatzungsmitglied mehr geholt.
Andererseits , dachte Irving, ist auch niemand außer mir allein und ohne Laterne raus aufs Eis gewandert, mitten durch diesen Zackenwald.
Als einzige Waffe hatte er eine Pistole dabei, die tief in der Tasche seines Überrocks vergraben war.
Nachdem er in der Dunkelheit und bei einem minus vierzig Grad kalten Wind eine Dreiviertelstunde durch die Zinnen gestreift war, kam Irving zu dem Entschluss, sich an einem anderen Tag wieder etwas einfallen zu lassen, am besten erst in einigen Wochen, wenn die Sonne länger als nur einige Minuten am Horizont blieb.
Da fiel ihm auf einmal ein Licht auf.
Es war ein unheimlicher Anblick: Aus einer Schneewechte in einer Eisrinne zwischen mehreren spitzen Zacken drang ein goldenes Glühen wie von einem inneren Feenlicht.
Oder einem Hexenlicht.
Vorsichtig trat er näher und hielt vor jedem Schatten inne, um sich zu vergewissern, dass es sich nicht um einen dünnen
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