Terror
Hand.
Irving atmete seufzend aus und setzte sich auf eine mit Fellen bedeckte Plattform, die ihrem Schlaflager gegenüberlag.
Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie warm es in dem Schneehaus war. Nicht nur wärmer als in der eiskalten Nacht draußen, nicht nur wärmer als auf dem Unterdeck der HMS Terror — sondern wirklich warm . Schon hatte er unter seinen vielen steifen und schmutzigen Schichten zu schwitzen begonnen. Und auch auf den nur wenige Fuß von ihm entfernten weichen braunen Brüsten der Frau erkannte er kleine Schweißperlen.
Wieder riss sich Irving von dem Anblick los und knöpfte seine äußeren Plünnen auf. Er stellte fest, dass das Licht und die Wärme von einer kleinen Paraffinbüchse ausgingen, die sie aus dem Schiff gestohlen haben musste. Kaum war ihm dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, verwarf er ihn schon. Es war tatsächlich eine Paraffinbüchse der Terror , aber eine, die kein Paraffin mehr enthalten hatte und mit vielen Hundert anderen in dem großen Abfallschacht gelandet war, den sie keine hundert Fuß vom Schiff entfernt ins Eis gegraben hatten. Die Flamme wurde nicht mit Paraffin genährt, sondern mit irgendeinem Öl. Es war kein Waltran, das erkannte er am Geruch. Robbenöl vielleicht? An einer oben an der Decke befestigten Schnur aus Tiereingeweiden oder -sehnen hing ein Stück Speck, aus dem Öl in die Lampe tropfte. Das Prinzip leuchtete Irving sofort ein: Wenn der Ölpegel sank, wurde der offensichtlich aus Ankerkabelhanf geflochtene Kerzendocht länger, die Flamme brannte stärker, und aus dem schmelzenden Speck tropfte mehr Öl in die Lampe. Eine ausgeklügelte Vorrichtung.
Die Paraffinbüchse war nicht der einzige interessante Gegenstand in dem Schneehaus. Ein wenig seitlich über der Lampe befand sich ein Gestell aus vier Rippen, die offenbar von Robben stammten. Wie hat Lady Silence nur diese Robben gefangen und erlegt? Die Rippen ragten senkrecht aus dem Schnee und waren mit einem komplizierten Geflecht aus Sehnen verbunden. Von dem Knochengestell hing eine große, rechteckige Goldner-Büchse, die ebenfalls von der Müllkippe der Terror stammte. Die Büchse war an den vier Ecken durchbohrt worden. Wenn sie tief über der Robbenölflamme hing, konnte sie hervorragend als Kochtopf oder Teekessel dienen.
Noch immer hatte Lady Silence ihre Brüste nicht bedeckt. Das weiße Bärenamulett bewegte sich im Rhythmus ihres Atems. Ihr Blick wich keine Sekunde von ihm.
»Guten Abend, Lady … äh … Silence. Ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich hier so … unangemeldet hereinplatze.« Er verstummte.
Blinzelte diese Frau denn nie?
»Kapitän Crozier lässt Ihnen Grüße ausrichten. Er hat mich gebeten, mal bei Ihnen vorbeizuschauen, um zu sehen … äh … wie es Ihnen so geht.«
Selten war sich Irving so albern vorgekommen. Trotz ihres monatelangen Aufenthalts an Bord war er sich sicher, dass das Mädchen kein Wort Englisch verstand. Unwillkürlich bemerkte er, dass sich in dem kalten Luftzug, den er mit in das Schneehaus gebracht hatte, ihre Brustwarzen aufgerichtet hatten.
Der Leutnant rieb sich den Schweiß von der Stirn. Schließlich zog er Fäustlinge und Handschuhe aus und nickte in Silence’ Richtung, als wollte er sich dafür von der Hausherrin nachträglich die Erlaubnis geben lassen. Dann wischte er sich erneut über die Stirn. Es war unglaublich, wie warm es in diesem kleinen, aus Schnee gebauten Kuppelraum nur von einer Lampe werden konnte, die tropfenden Speck verbrannte.
»Der Kapitän würde gern …« Er verstummte wieder. »Ach, das hat doch keinen Zweck.« Er griff in seine Ledertasche und zog den in eine Serviette gewickelten Zwieback und das mit seinem feinen orientalischen Seidentaschentuch umhüllte Marmeladentöpfchen heraus.
Mit leicht zitternden Händen hielt er ihr die zwei Bündel hin.
Die Eskimofrau traf keine Anstalten, sie in Empfang zu nehmen.
»Bitte«, sagte Irving.
Nachdem Silence zweimal gezwinkert und das Messer in ihrem Gewand hatte verschwinden lassen, legte sie die beiden Packen neben sich auf das Schlaflager. Als sie sich zur Seite wandte, berührte die Spitze ihrer rechten Brust fast das fernöstliche Taschentuch.
Irving senkte den Blick und bemerkte, dass auch er auf einem dicken Tierpelz saß. Wo hat sie dieses zweite Fell her? Dann fiel ihm ein, dass sie ihr vor sieben Monaten den Anorak des Eskimos gegeben hatten. Den Anorak des weißhaarigen Alten, der auf dem Schiff gestorben war, nachdem ihn einer von
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