Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
Spalt im Eis handelte. Leise pfeifend fuhr der Wind durch die schartigen Spitzen der ringsumher aufragenden Säulen. Überall zuckte das violette Polarlicht.
    Die Schneewechte war – entweder vom Wind oder von Silence’ Händen – zu einer niedrigen Kuppel geformt worden, durch deren Wände ein gelbliches Flackern zu erkennen war.

    Irving ließ sich in die schmale Rinne hinabgleiten, die eigentlich nur eine Senke zwischen zwei vom Schnee abgerundeten Packeisplatten war. Von dort aus näherte er sich einem kleinen schwarzen Loch, das zu weit unten gelegen schien, um mit der ziemlich hoch aus der Schneewechte ragenden Kuppel in Verbindung gebracht zu werden.
    Der Eingang – wenn es denn einer war – war kaum so breit wie Irvings dick eingepackte Schultern. Bevor er hineinkroch, fragte er sich, ob er seine Pistole aus der Tasche ziehen und den Hahn spannen sollte. Keine besonders freundliche Begrüßung , dachte er und verwarf die Idee wieder.
    Dann schlängelte er sich in das Loch.
    Der schmale Schacht führte ungefähr seine halbe Körperlänge abwärts und wand sich dann mindestens acht Fuß weit nach oben. Als Irving mit Kopf und Schultern am anderen Ende aus der Öffnung auftauchte, blickte er sich verwirrt um, und seine Kinnlade sackte nach unten.
    Als Erstes bemerkte er, dass Lady Silence nackt war und unter ihren offenen Gewändern auf einer aus Schnee gestalteten Plattform lag. Diese befand sich ungefähr vier Fuß von Irving entfernt und fast drei Fuß über seiner Augenhöhe. Zwischen Lady Silence’ gut sichtbaren Brüsten hing an einer Schnur die kleine Steinfigur des weißen Bären, die sie ihrem toten Gefährten abgenommen hatte. Sie traf keine Anstalten, ihre Blöße zu bedecken, sondern starrte ihn unverwandt an. Er hatte sie nicht erschreckt. Offenbar hatte sie ihn gehört, lange bevor er sich durch den Eingangsschacht der Schneekuppel gezwängt hatte. In der Hand hielt sie das kurze, äußerst scharfe Steinmesser, das ihm schon im Kabelgatt aufgefallen war.
    »Ich bitte vielmals um Entschuldigung.« Irving war unsicher, was er als Nächstes tun sollte. Sitte und Anstand verlangten eigentlich von ihm, dass er sich rückwärts wieder aus diesem Damenboudoir herausschlängelte, auch wenn das einen unbeholfenen,
linkischen Eindruck machte. Dann erinnerte er sich daran, dass er einen Auftrag hatte.
    Andererseits war es seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass er völlig hilflos in der Öffnung zu diesem Schneehaus eingeklemmt war und dass sich Silence, wenn ihr der Sinn danach stand, mühelos zu ihm vorbeugen und ihm mit ihrem Messer die Kehle durchschneiden konnte.
    Schließlich befreite sich Irving aus der engen Röhre und zog auch seine Ledertasche heraus. Erst ging er auf die Knie, dann stand er auf. Der Boden des Schneehauses war bis unter das Niveau der Eisoberfläche ausgeschachtet, so dass Irving genügend Platz hatte, um sich zu voller Höhe aufzurichten. Jetzt erkannte er, dass das Schneehaus, das von außen wie eine leuchtende Wechte aussah, in Wirklichkeit aus Schneeblöcken und -platten errichtet war, die sich auf äußerst kunstvolle Weise zu einer Kuppel wölbten.
    Irving, der an der besten Schützenakademie der Royal Navy ausgebildet worden und schon immer gut in Mathematik gewesen war, fiel sofort auf, dass sich die Blöcke schneckenförmig nach oben wanden und jeweils immer ein Stück weiter als die vorangehenden nach innen ragten. In der Mitte der Kuppel war von oben ein Abschlussblock hineingerammt und dann von unten an die richtige Stelle gerückt worden. Auf einer Seite des Abschlussblocks befand sich ein winziger, nur zwei Zoll breiter Rauchabzug.
    Der Mathematiker in Irving erkannte außerdem, dass die Kuppel nicht die Form einer Halbkugel besaß – eine solche Kuppel wäre eingestürzt –, sondern die einer umgekehrten Katenoide: einer an den Enden aufgehängten Kette. Und dem Gentleman entging indes nicht, dass er die Decke, die Blöcke und den geometrischen Aufbau dieser raffinierten Behausung nur deshalb so genau in Augenschein nahm, weil er nicht Lady Silence’ nackte Brüste und Schultern anstarren wollte. Nachdem er ihr genügend
Zeit gegeben hatte, um sich die Pelzgewänder überzuziehen, blickte er wieder in ihre Richtung.
    Ihr Busen war noch immer nackt. Das weiße Bärenamulett ließ ihre Haut umso brauner erscheinen. Ihre dunklen Augen musterten ihn weiterhin neugierig, doch durchaus nicht feindselig. Nach wie vor hielt sie das Messer in der

Weitere Kostenlose Bücher