Terror
Expedition Sir John Franklins führte.
Nach der ersten Stunde im Geschirr schien der Schlitten etwas leichter dahinzugleiten. Crozier rang rhythmisch keuchend nach Luft, weil ein normales Atmen beim Schleppen einer solchen Last über klebriges Eis gar nicht möglich war.
Das waren alle Klassen von Schiffsleuten, die dem Kapitän einfielen. Bis auf die vier Freiwilligen natürlich, die sich in letzter Minute zur Expedition gemeldet hatten und als »Schiffsjungen« in die Musterrolle eingetragen worden waren, obwohl drei von ihnen schon achtzehn waren. Robert Golding war bereits neunzehn, als sie in See stachen.
Drei von den vier Schiffsjungen lebten noch, auch wenn Crozier persönlich den bewusstlosen George Chambers in der Silvesternacht aus den brennenden Karnevalsgemächern hatte retten müssen. Der einzige Todesfall unter den Schiffsjungen war
Tom Evans, der dem Benehmen und Alter nach Jüngste der Gruppe. Das Wesen aus dem Eis hatte ihn dem Kapitän buchstäblich unter der Nase weggeschnappt, als sie draußen in der Dunkelheit nach dem vermissten William Strong suchten.
George Chambers hatte zwar zwei Tage nach dem Maskenball das Bewusstsein wiedererlangt, war aber nicht mehr er selbst. Der aufgeweckte Bursche hatte bei der Begegnung mit der Bestie offenbar eine Gehirnerschütterung erlitten und verfügte seither über einen Intelligenzgrad, der noch unter dem von Magnus Manson lag. George war zwar kein lebender Leichnam wie Heather und konnte noch einfache Befehle ausführen, wie der Bootsmannsmaat der Erebus berichtete, doch nach diesem schrecklichen Silvesterball hatte er kaum ein Wort mehr gesprochen.
Davey Leys, einer der erfahrensten Matrosen der Expedition, war ein weiterer Mann, der eine Begegnung mit dem weißen Wesen aus dem Eis zwar körperlich überlebt hatte, aber inzwischen genauso wenig zu gebrauchen war wie der buchstäblich hirnlose Gefreite Heather. Nach der Nacht, in der das Ungeheuer Leys und John Handford auf der Wache überfallen und danach den Eislotsen Thomas Blanky hinaus in die Dunkelheit verfolgt hatte, war Leys wieder wie schon einmal in einen Zustand verfallen, in dem er nicht mehr auf die Umwelt reagierte. Daran hatte sich auch nichts mehr geändert. Zusammen mit den anderen Verletzten und Kranken, die nicht gehen konnten, war er in Decken gewickelt auf eines der Boote geladen und mit dem Schlitten zum Terror -Lager transportiert worden. Inzwischen gab es viel zu viele, die an Skorbut, Verletzungen oder schlechter Moral litten, viel zu viele, auf die Crozier und Fitzjames nicht mehr zählen konnten. Leute, die Essen brauchten und mitgeschleppt werden mussten, obwohl die Schlittenzieher selbst Hunger hatten, krank waren und sich kaum auf den Beinen halten konnten.
Crozier hatte seit zwei Nächten nicht mehr richtig geschlafen. Müde versuchte er, die Toten zu zählen.
Fünf Offiziere von der Erebus. Vier von der Terror.
Alle drei Deckoffiziere von der Erebus. Keiner von der Terror.
Zwei Unteroffiziere von der Erebus. Zwei von der Terror.
Nur ein Matrose von der Erebus. Drei von der Terror.
Das waren zwanzig Tote ohne die drei Seesoldaten und den Schiffsjungen Evans. Die Expedition hatte bereits vierundzwanzig Männer das Leben gekostet. Eine schreckliche Zahl – an solche Verluste konnte sich Crozier von keiner Polarexpedition der Royal Navy erinnern.
Aber es gab eine noch wichtigere Zahl, auf die sich Francis Rawdon Moira Crozier zu konzentrieren suchte: einhundertvier Überlebende, die seiner Obhut anvertraut waren.
Einhundertfünf Überlebende, wenn er sich selbst mitrechnete, am Tag, da er die Terror hatte aufgeben müssen, um den Marsch über das Eis zu wagen.
Crozier senkte den Kopf und stemmte sich stärker ins Geschirr. Wind war aufgekommen und wirbelte den Schnee um sie herum auf. Der Schlitten vor ihm versank im Gestöber, die eskortierenden Seesoldaten waren nicht mehr zu sehen.
Stimmte seine Zählung tatsächlich? Zwanzig Tote, die drei Seesoldaten und den Schiffsjungen nicht mitgerechnet? Ja, es musste stimmen. Leutnant Little und er hatten am Morgen die Besatzungsliste geprüft und festgestellt, dass sich einhundertfünf Mann auf die Schlittentrupps, das Lager und die Terror verteilten. Aber konnte er sich wirklich sicher sein? Hatte er nicht doch jemanden vergessen? Hatte er sich beim Zusammenzählen und Abziehen bestimmt nicht vertan? Der Kapitän war unglaublich müde.
Die Zählung mochte Crozier im Augenblick durcheinanderbringen, schließlich
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