Terror
den vergangenen Wochen schon tiefe Schneisen in den Hügel gegraben hatten. Sie mussten die schweren Schlitten zwischen schwindelerregend hohen Eisklippen zu beiden Seiten über einen steilen, mindestens fünfzehn Fuß langen Hang wuchten und zerren. Und während dieser Plackerei waren sie ständig der Gefahr herabstürzender Eistrümmer ausgesetzt.
»Fast könnte man meinen, dass sich ein dunkler Gott über unsere Quälerei lustig macht«, bemerkte Thomas Blanky in munterem Ton. Der vom Schleppdienst befreite Eislotse humpelte neben Crozier her.
Der Kapitän blieb ihm die Antwort schuldig, und nach einer Weile ließ sich Blanky zurückfallen, um sich zu einem der Seesoldaten zu gesellen.
Crozier rief jetzt einen Ersatzmann herbei, der seinen Platz im Geschirr einnehmen sollte. Der Wechsel ohne Anhalten des Schlittens war gut eingeübt. Nachdem der Ersatzmann die Gurte übergestreift hatte, verließ der Kapitän die eingegrabenen Furchen und blickte auf seine Taschenuhr. Sie waren bereits seit fünf Stunden unterwegs. Crozier wandte sich um und sah, dass die echte Terror schon mindestens fünf Meilen hinter ihnen lag und von mehreren niedrigen Pressrücken verdeckt wurde. Die Luftspiegelung
war, wie der Eislotse es beschrieben hatte, wohl die letzte Heimsuchung einer bösen arktischen Gottheit gewesen, die sich an ihren Qualen zu weiden schien.
Francis Rawdon Moira Crozier war zwar noch immer der Befehlshaber dieser unglückseligen Expedition, doch nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, dass er nicht mehr der Kapitän eines Schiffs der Royal Navy war. Seit der Kindheit hatte sein ganzes Leben nur aus der Existenz als Seemann und Marineoffizier bestanden. Doch das lag nun für immer hinter ihm. Nach dem Verlust so vieler Männer und beider Schiffe würde ihm die Admiralität nie wieder ein Kommando übertragen. Was seine lange Laufbahn bei der Navy betraf, war Crozier eine wandelnde Leiche.
Noch immer waren sie zwei Tage vom Terror -Lager entfernt. Zwei Tage schwere Knochenarbeit. Crozier richtete den Blick auf den hohen Pressrücken und stapfte weiter.
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Goodsir
69°37′42′′ NÖRDLICHE BREITE | 98°41′ WESTLICHE LÄNGE
22. APRIL 1848
Aus dem persönlichen Tagebuch
von Dr. Harry D. S. Goodsir:
Den 22. April 1848
Seit vier Tagen weile ich nun an diesem Orte, welchen wir Terror -Lager heißen. Lager des Schreckens, ein treffender Name, wie mich dünkt.
Das Commando über die knapp sechzig Mann hier führt Capitain Fitzjames.
Ich muß gestehen, daß mich der erste Anblick dieser Gestade an Homers Ilias gemahnte. Das Lager wurde am Eingang eines breiten Meeresarms ungefähr zwey Meilen südlich eines Steinmals aufgeschlagen, welches James Clark Ross vor nunmehr fast zwey Jahrzehnten am Victory Point errichtete. Hier sind wir ein wenig besser vor dem Winde geschützt, der beständig den Schnee über das Packeis peitscht.
Vielleicht waren es die nebeneinander am Rande des Meereises aufgereihten langen Boote, welche die Erinnerung an Scenen aus der Ilias in mir wachriefen. Vier Boote liegen seitlich im Geröll, vierzehn sind aufrecht auf Schlitten gezurrt.
Hinter den Booten stehen zwanzig Zelte verschiedener Größe und Gestalt.
Es sind dies im einzelnen: kleine Hollandzelte, wie wir sie vor fast einem Jahr benutzten, als ich den bedauernswerthen Leutnant Gore zum Victory Point begleitete – jedes dieser Zelte bietet sechs Männern Platz, welche jeweils zu dritt in einem fünf Fuß breiten Schlafsack aus Wolfsfell schlafen; weitere, um ein weniges geräumigere Zelte von der Hand des Segelmachers Murray, zu welchen auch die für Capitain Fitzjames und Capitain Crozier sammt ihren persönlichen Aufwärtern bestimmten Behausungen gehören; und schließlich die zwey größten Zelte, welche jeweils ungefähr so viel Platz biethen wie Sir Johns Kajüte auf der Erebus und als Lazarett respective als Seemannsmesse dienen sollen. Der Verpflegung der Deckofficiere und Officiere ist ein weiteres Zelt vorbehalten.
Vielleicht war es auch ein anderer Umstand, welcher die Bilder der Ilias in mir heraufbeschwor. Wer sich nachts dem Terror -Lager nähert – sämmtliche Schlittentrupps von der HMS Terror langten am dritten Tage ihrer Fahrt erst nach Einbruch der Dunkelheit an –, dem stechen zuerst die vielen Lagerfeuer ins Auge. Zwar gibt es kein Brennholz, mit Ausnahme der wenigen Eichenplanken von der zerschmetterten Erebus , welche genau zu diesem Behufe mitgebracht worden, doch im
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