Terror
hatte er seit zwei, nein eigentlich seit drei Nächten nicht mehr geschlafen. Aber er hatte nicht einen seiner Männer vergessen. Weder das Gesicht noch den Namen.
»Kapitän Crozier!«
Crozier erwachte aus der Benommenheit, in die ihn das Schlittenziehen immer versetzte. In diesem Augenblick hätte er nicht angeben können, ob er seit einer oder schon seit sechs Stunden im Geschirr hing. Die Welt war zusammengeschrumpft auf das Gleißen der kalten Sonne im Südosten, das Wehen von Eiskristallen, den rasselnden Atem, die Schmerzen am ganzen Körper, die Last hinter ihm, den Widerstand des Meereises und des Neuschnees und vor allem den merkwürdig blauen Himmel mit den weißen Wolkenfetzen, die überall herumwirbelten, als würden sie alle zusammen durch eine blauweiß marmorierte Schüssel waten.
»Kapitän Crozier!« Das war Leutnant Littles Stimme.
Crozier wurde bewusst, dass die anderen Schlepper stehen geblieben waren. Keiner der Schlitten bewegte sich mehr.
Südöstlich von ihnen, vielleicht eine Meile hinter dem nächsten hoch aufgetürmten Pressrücken, zog ein dreimastiges Schiff von Norden nach Süden. Die Segel waren eingerollt und die Rahen zum Ankern gebrasst, aber trotzdem glitt es, wie von einer starken Strömung gezogen, langsam und majestätisch dahin, wie in einer breiten, offenen Fahrstraße, die gleich hinter dem nächsten Hügelkamm liegen musste.
Rettung. Erlösung.
Einen kurzen, überwältigenden Augenblick lang loderte die stetige blaue Flamme der Hoffnung in Croziers schmerzender Brust hell auf.
Der Eislotse Blanky, dessen künstliches Bein in einer Art Holzschuh steckte, den der Zimmermann angefertigt hatte, trat auf Crozier zu. »Eine Luftspiegelung.«
»Natürlich«, erwiderte der Kapitän.
Selbst durch die flimmernde Luft hatte er die charakteristische Mörserschifftakelage der HMS Terror gleich erkannt, und für einen schwindelerregenden Sekundenbruchteil hatte sich
Crozier gefragt, ob sie sich verirrt und aus Versehen kehrtgemacht hatten, ob sie jetzt wieder auf das Schiff zumarschierten, das sie vor wenigen Stunden aufgegeben hatten.
Nein. Da waren die alten, an manchen Stellen schon verwehten Schlittenspuren, die sich nach den vielen Hin- und Rückfahrten tief in das Eis gegraben hatten und direkt auf den hohen Pressrücken mit den schmalen, ins Eis geschlagenen Durchgängen zuführten. Und auch die Sonne stand noch rechts vor ihnen tief im Süden.
Jenseits des Pressrückens schimmerten jetzt die drei Masten, lösten sich kurz auf und kehrten noch eindrucksvoller zurück, nur verkehrt herum diesmal, so dass der im Eis begrabene Rumpf der Terror nahtlos in den zirrusweißen Himmel überging.
Crozier, Blanky und viele andere Besatzungsmitglieder hatten diese Erscheinung schon oft gesehen – Trugbilder am Himmel. Vor Jahren hatte Crozier an einem strahlenden Wintermorgen, vor der Landmasse der Antarktis im Eis liegend, einen rauchenden Vulkan erblickt – eben den, der jetzt den Namen der Terror trug –, der sich auf dem Kopf stehend aus dem nördlichen Packeis erhob. Und im Frühjahr 1847 war Crozier an Deck gekommen und Zeuge geworden, wie schwarze Kugeln über den südlichen Himmel schwebten. Die Kugeln verwandelten sich in liegende Achten, spalteten sich dann wieder in einen symmetrischen Zug dunkler Ballone und lösten sich schließlich im Lauf einer Viertelstunde völlig auf.
Vor dem dritten Schlitten waren zwei Seeleute zusammengesunken und knieten im kufendurchpflügten Schnee. Einer von ihnen weinte hemmungslos, der andere spuckte einen Schwall phantastischer Seemannsflüche aus, wie ihn selbst Crozier in seiner langen Laufbahn noch selten gehört hatte.
»Gottverdammt!«, brüllte der Kapitän. »Ihr habt doch schon öfter arktische Luftspiegelungen gesehen. Hört sofort auf mit dem Geflenne und Gefluche, sonst lass ich euch den Schlitten
allein ziehen und setz mich oben drauf, um euch in den Arsch zu treten. Hoch mit euch, sag ich! Ihr seid Männer und keine Memmen. Also reißt euch gefälligst zusammen und benehmt euch auch so.«
Die zwei Matrosen standen auf und wischten sich unbeholfen Eiskristalle und Schnee von den Kleidern. Wegen der Plünnen und Welsh Wigs hatte Crozier sie nicht erkannt und er wollte es auch gar nicht.
Mit lautem Ächzen, aber ohne Fluchen setzte sich der Schlittenzug wieder in Bewegung. Alle wussten, dass mit dem hohen Pressrücken vor ihnen noch ein dicker Brocken Arbeit auf sie wartete, auch wenn die vielen Fahrten in
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