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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Tal vor ihm bewegten sich schwarze Flecken.
    Mit den Zähnen zerrte sich Irving die Fäustlinge herunter und kramte in der ledernen Umhängetasche nach seinem geliebten Sehrohr, das ihm sein Onkel zum Eintritt in die Navy geschenkt hatte. Er durfte das Messingokular nicht zu nahe ans Gesicht halten, weil es ihm sofort an Wange und Stirn gefroren wäre, wenn er sie damit berührt hätte, und so hatte er selbst mit zwei Händen Mühe, ein klares Bild zu bekommen. Seine Arme und Hände zitterten.
    Was er auf den ersten Blick für eine kleine Herde zottiger Tiere gehalten hatte, waren Menschen.
    Hodgsons Jagdtrupp.
    Nein. Diese Gestalten waren in schwere Pelzanoraks gekleidet, wie er sie von Lady Silence kannte. Und sie stapften zu zehnt durch das Tal, dicht zusammengedrängt, nicht einer nach dem anderen. George hatte nur sechs Männer bei sich, und er war nicht landeinwärts gezogen, sondern in südlicher Richtung an der Küste entlang.
    Und im Gegensatz zu Hodgsons Jagdtrupp hatte diese Gruppe einen kleinen Schlitten dabei. Einen Schlitten dieser Größe gab es im Terror -Lager nicht.
    Irving drehte an der Einstellung seines Sehrohrs und hielt den Atem an, um sein Zittern einzudämmen.
    Der Schlitten wird von einem Gespann von mindestens sechs Hunden gezogen.
    Das war entweder eine weiße Rettungsmannschaft in Eskimokleidung oder eine Gruppe echter Eskimos.
    Irving setzte das Sehrohr ab. Er musste auf ein Knie gehen und für einen Augenblick den Kopf senken. Vor ihm schien sich alles zu drehen. Die körperliche Schwäche, die er wochenlang mit schierer Willenskraft zurückgedrängt hatte, stieg in ihm hoch wie konzentrische Kreise der Übelkeit.

    Das ändert alles.
    Die Gestalten dort unten schienen ihn noch immer nicht bemerkt zu haben, vielleicht weil er sich mit seinem dunklen Mantel kaum von dem Felshügel abhob. Es konnte sich um Jäger einer unbekannten Eskimosiedlung aus der näheren Umgebung handeln. Wenn das zutraf, waren die einhundertfünf Überlebenden der Erebus und Terror mit hoher Wahrscheinlichkeit gerettet. Die Eingeborenen konnten sie mit Nahrung versorgen oder ihnen zeigen, wie man sich in diesem unwirtlichen Land selbst versorgte.
    Natürlich war auch nicht auszuschließen, dass Irving einen Kriegstrupp vor sich hatte und dass die primitiven Speere, die er erspäht hatte, für die weißen Eindringlinge bestimmt waren.
    Wie auch immer, der Dritte Leutnant John Irving wusste, dass es seine Pflicht war, ihnen gegenüberzutreten und es herauszufinden.
    Er schob sein Sehrohr zusammen und verstaute es vorsichtig zwischen den Kleidungsstücken in seiner Schultertasche. Dann riss er den Arm zu einer Gebärde hoch, die die Wilden hoffentlich als friedlichen Gruß verstanden, und stieg hinunter zu den zehn Gestalten, die wie angewurzelt stehen geblieben waren.

36
Crozier
    69°37′42′′ NÖRDLICHE BREITE | 98°41′ WESTLICHE LÄNGE
24. APRIL 1848
     
     
     
    D er dritte und letzte Tag auf dem Eis war bei weitem der schwerste. In den vergangenen sechs Wochen hatte Crozier diesen Marsch bereits zweimal mit den ersten, größeren Schlittentrupps absolviert, doch trotz des schlechter passierbaren Wegs war es damals viel leichter gewesen. Damals war Crozier noch nicht so krank. Und längst nicht so müde.
    Auch wenn er es nicht bewusst wahrgenommen hatte, seit der Genesung von seiner fast tödlichen Entwöhnungstortur im Januar war seine schwere Melancholie in eine zunehmende Schlaflosigkeit umgeschlagen. Als Seemann und später als Kapitän war Crozier wie die meisten seiner Kameraden und Kollegen stolz darauf, dass er nur wenig Schlaf brauchte und dass ihm auch im tiefsten Schlummer nichts entging, was den Zustand seines Schiffs betraf: eine geringe Kursabweichung, auffrischender Wind in den Segeln, das Poltern zu vieler Schritte an Deck während einer bestimmten Wache, jede Veränderung im Klang des Wassers an den Bordwänden.
    Doch in den letzten Wochen hatte er von Nacht zu Nacht weniger geschlafen, bis er schließlich nur ein oder zwei Stunden vor sich hin döste und vielleicht untertags noch ein halbstündiges
Nickerchen machte. Er führte das darauf zurück, dass er in den letzten Wochen vor dem Marsch aufs Eis unzählige Einzelheiten überwachen und Befehle erteilen musste, doch in Wirklichkeit war es wieder sein altes Leiden, das ihn vernichten wollte: die Melancholie.
    Häufig bewegte er sich wie in einem Nebel. Er war ein intelligenter Mann, dem jedoch die chronische Übermüdung den klaren

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