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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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dem alten Murray in sein Totenhemd aus Leinwand eingenäht wurde. Die Männer legten Zeichen ihrer Zuneigung neben den Leichnam: sein geliebtes Messingsehrohr, dessen Linsen bei der Schießerei zerbrochen waren, eine goldene Medaille mit seinem eingravierten Namen, die er bei Wettbewerben auf dem Schulschiff HMS Excellent gewonnen hatte, und eine Fünfpfundnote, als hätte jemand eine alte Schuld beglichen. War es aus Optimismus oder jugendlicher Naivität geschehen, auf jeden Fall hatte Irving in den Seesack mit seiner persönlichen Habe auch seine Galauniform gepackt, und darin wurde er jetzt bestattet. Crozier streifte der Gedanke, dass eines Tages von dem Jungen nichts anderes mehr übrig sein würde als die Goldknöpfe mit dem Motiv eines von einer Krone umkränzten Ankers, die Medaille des Ausbildungsschiffs und die ausgebleichten Knochen.

    »Mitten im Leben sind wir im Tode.« Fitzjames trug aus dem Gedächtnis vor. Seine Stimme klang müde, aber immer noch voll. »Wen rufen wir um Hilfe an, denn Dich, o Herr, der Du um unsere Sünden billig zürnest!«
    Kapitän Crozier wusste, dass noch ein anderer Gegenstand in Irvings Leichentuch eingenäht worden war, der jetzt wie ein Kissen unter seinem Kopf lag.
    Es war ein grün, rot und blau besticktes orientalisches Taschentuch. Nachdem Goodsir, Lloyd, Hodgson und die anderen gegangen waren, war Crozier kurz in das Zelt getreten, um sich seinerseits von dem aufgebahrten Leutnant zu verabschieden.
    Er kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sich Lady Silence über den Leichnam beugte und ihm etwas unter den Kopf schob.
    Instinktiv wollte Crozier schon nach dem Revolver in seiner Manteltasche greifen, doch bei einem genaueren Blick auf das Gesicht des Eskimomädchens erstarrte er. Zwar hatte sie keine Tränen in den dunklen, fast nicht menschlichen Augen, aber dennoch leuchtete ein Gefühl darin auf, das er nicht genau zuordnen konnte. Schmerz? Das konnte sich der Kapitän nicht vorstellen. Es war eher etwas wie ein Erkennen Croziers, wie unter … Komplizen. Er spürte die gleiche seltsame Regung in seinem Inneren, die er so oft in Memo Moiras Gegenwart wahrgenommen hatte.
    Offensichtlich hatte es etwas zu bedeuten, dass sie dem Jungen das orientalische Taschentuch so sorgfältig unter den Kopf gelegt hatte. Crozier wusste, dass das kleine Stück Stoff Irving gehört hatte. Seit dem Tag der Abreise im Mai 1845 hatte er es wiederholt zu besonderen Anlässen bei ihm gesehen.
    Hatte das Eskimoweib das Tuch gestohlen? Hatte sie vielleicht gestern die Leiche geplündert?
    Vor etwas mehr als einer Woche war Silence Irvings Schlittenzug nach King-William-Land gefolgt, doch dann war sie einfach verschwunden, ohne sich den Männern im Lager anzuschließen.
Kaum jemand außer Crozier, der sich immer noch essbares Wild von ihr erhoffte, weinte ihr eine Träne nach. Aber an diesem bedrückenden Vormittag wurde der Kapitän den Verdacht nicht los, dass sie für den Mord an seinem Offizier auf dem windgepeitschten Geröllhügel verantwortlich sein könnte.
    Hatte sie die befreundeten Eskimojäger hierher geführt, um das Lager zu überfallen, und war unterwegs zufällig auf Irving gestoßen? Hatte sie den Ausgehungerten zu einem Festmahl eingeladen und ihn dann kaltblütig ermordet, damit er den Expeditionsteilnehmern nichts von seiner Begegnung erzählen konnte? War Silence die junge Frau, die Farr, Hodgson und die anderen gesehen zu haben glaubten, als sie in Begleitung eines Eskimomannes mit Stirnband floh? Falls sie in der letzten Woche in ihr Dorf zurückgekehrt war, konnte sie ihren Anorak gewechselt haben. Und wer konnte schon junge Eskimofrauen auf einen Blick unterscheiden?
    All diese Fragen gingen Crozier durch den Kopf, als er ihr gegenüberstand. Einen schier endlosen Moment lang waren beide wie erstarrt, dann begegneten sich ihre Blicke, und der Kapitän wusste – ob in seinem Herzen oder mit dem, was Memo Moira immer als sein zweites Gesicht bezeichnet hatte –, dass sie um John Irving trauerte und dass das Seidentaschentuch ein Geschenk des Toten gewesen war, das sie ihm nun zurückgab.
    Wahrscheinlich hatte ihr der Leutnant das Taschentuch bei seinem Besuch in ihrem Schneehaus im Februar überreicht, von dem er dem Kapitän pflichtgemäß berichtet hatte, ohne auf Einzelheiten einzugehen. Crozier fragte sich, ob die beiden miteinander geschlafen hatten.
    Der Kapitän trat an Irvings Bahre und blickte hinab auf das bleiche, tote Gesicht, das mit dem bunt

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