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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Fels der Küste war so beschwerlich für ihn, dass meist schon nach einem Drittel des täglichen sechzehn- bis achtzehnstündigen Weges das Blut aus dem Stumpf über das kugelförmige Gelenk des Holzbeins und den Befestigungsgurt quoll. Es sickerte durch seine dicke Baumwollhose, lief am Holz hinab und zog eine Spur hinter sich her. Selbst nach oben drang es durch die Unterwäsche und das Hemd.
    In den ersten Wochen nach dem Aufbruch aus dem Terror -Lager war es noch so kalt, dass das Blut rasch gefror. Doch jetzt, da die Temperaturen untertags teilweise sogar über den Gefrierpunkt kletterten, blutete Blanky wie ein abgestochenes Schwein.
    In der Kälte waren ihm die dicken Plünnen und der lange Überrock zu Hilfe gekommen, weil sie die schlimmsten Spuren vor den Augen der anderen verbargen. Aber Mitte Juni brauchten die Seeleute in den Geschirren keine Mäntel mehr, und so wurden Tonnen von feuchten Plünnen und Wollsachen in die Boote geladen. In der wärmsten Tageszeit arbeiteten die Männer oft in Hemdsärmeln und zogen erst wieder mehrere Schichten an, wenn es am Nachmittag auf minus fünfzehn Grad abkühlte. Als sie Blanky fragten, warum er immer noch seinen Überrock trug, hatte er lachend geantwortet: »Ich hab eben kaltes Blut, Maaten. Durch das Holzbein steigt die Bodenkälte in mich auf. Ich will doch nicht, dass ihr mich zittern seht.«
    Schließlich musste er den Überrock dann doch ausziehen. Es kostete ihn größte Mühe, humpelnd mit dem Zug Schritt zu halten, und die Schmerzen in seinem geschundenen Beinstumpf
waren so schlimm, dass er schon im Stehen schwitzte. Irgendwann hielt er das ständige Gefrieren und Auftauen der Nässe in seinen vielen Kleiderschichten einfach nicht mehr aus.
    Als die Männer das sickernde Blut bemerkten, sagten sie nichts. Sie hatten ihre eigenen Beschwerden. Die meisten von ihnen bluteten vom Skorbut.
    Crozier und Little nahmen Blanky und Reid häufig beiseite, um die beiden Experten nach ihrer Meinung über das Eis jenseits der Eisbergbarriere an der Küste zu fragen. Das breite Kap südlich der Comfort Cove hatte sie weit nach Westen geführt und ihren Weg wahrscheinlich um zwanzig Meilen verlängert. Als sich die Küste wieder nach Osten wandte, äußerte Reid die Meinung, dass das Eis zwischen diesem Teil von King-William-Land und dem Festland – gleich, ob sie miteinander verbunden waren oder nicht – langsamer aufbrechen würde als das Packeis im Nordwesten, wo im Sommer mit mehr Bewegung zu rechnen war.
    Blanky war da optimistischer. Er wies darauf hin, dass die Eisberge an der Südküste immer kleiner wurden. Diese weiter im Norden schier unüberwindlich aufragende Barriere stellte hier keine größere Behinderung mehr dar als eine Gruppe niedriger Eiszinnen.
    Der Grund dafür war, wie er dem Kapitän erklärte, dass das Kap diesen Abschnitt der Küste vor der Eisströmung aus dem Nordwesten schützte, der die Erebus und Terror und auch noch die Küste oben beim Terror -Lager ausgesetzt waren. Diese Gletscher drängten direkt vom Nordpol herab. Die See südlich des Südwestkaps war besser abgeschirmt. Vielleicht würde das Eis hier früher aufbrechen.
    Reid hatte ihm einen merkwürdigen Blick zugeworfen, als Blanky diese Ansicht zum Ausdruck gebracht hatte. Blanky wusste natürlich, was sein Kollege dachte: Gleich, ob es sich hier um einen Golf oder um eine Meerenge handelt, die uns zur Mündung des
Großen Fischflusses führt, in einem umgrenzten Raum bricht das Eis meist ganz zuletzt auf.
    Reid hatte diese Auffassung offensichtlich nur deshalb für sich behalten, weil er seinen Freund nicht in Verlegenheit bringen wollte. Trotzdem blieb Blanky optimistisch, ja er spürte diese Zuversicht jeden Tag in seinem Herzen seit jener dunklen Nacht im Dezember des vergangenen Winters, als ihn das Ungeheuer von der Terror in den Wald aus Eiszinnen gejagt und er bereits mit dem Leben abgeschlossen hatte.
    Zweimal hatte das Geschöpf versucht, ihn zu töten. Und zweimal hatte Thomas Blanky dabei nur Teile eines Beins verloren.
    So humpelte er weiter und munterte die ausgezehrten Männer mit einem Scherzwort, einigen Krümeln Tabak oder einem Schnipsel Rindfleisch auf. Er spürte, dass seine Zeltmaaten Wert auf seine Gegenwart legten. In den immer kürzer werdenden Nächten beteiligte er sich am Wachdienst, und den am Morgen aufbrechenden Schlittenzug begleitete er mühsam hinkend mit einer Schrotflinte. Dabei wusste Blanky besser als jeder andere, dass die schreckliche

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