Terror
Blanky bereits sein drittes Bein, und es war ein schlechterer Ersatz als das zweite. Mannhaft hinkte er durch das Geröll, die Bäche und das stehende Wasser, aber am Nachmittag begleitete er die Seeleute nicht mehr auf der verhassten zweiten Strecke.
Thomas Blanky musste sich dem Umstand stellen, dass er für
die erschöpften und kranken Überlebenden – vierundneunzig, wenn er sich selbst nicht mitzählte – nur eine weitere tote Last war, die sie mitschleppen mussten.
Doch obwohl auch sein drittes Bein schon bald zu splittern begann und es keine Spieren mehr gab, aus denen man ein weiteres hätte anfertigen können, ließ er den Mut nicht sinken. Er hoffte darauf, dass in Kürze seine Fähigkeiten als Eislotse benötigt wurden, wenn sie sich mit den Booten aufs Meer hinauswagten.
Aber obwohl untertags bei Temperaturen von bis zu vier Grad plus das Eis auf den Felsen und an der kargen Küste taute, gab es draußen im Packeis noch keinerlei Anzeichen für ein Aufbrechen. Blanky übte sich in Geduld. Schließlich wusste er besser als jeder andere Teilnehmer der Expedition, dass in der Arktis selbst in einem »normaleren« Sommer wie diesem frühestens Mitte Juli mit offenen Rinnen im Meereis zu rechnen war.
Letztlich entschied der Zustand des Eises jedoch nicht nur über seine Nützlichkeit, sondern auch über sein Überleben. Wenn sie bald mit den Booten fahren konnten, kam er vielleicht mit dem Leben davon. In einem Boot war er nicht auf sein Bein angewiesen. Schon vor längerer Zeit hatte Crozier Thomas Blanky als Bootsführer einer Pinasse eingeteilt, dem acht Mann unterstanden. Mit ein wenig Glück konnten sie mit ihrer kleinen Flotte aus zehn zerschrammten Booten bis zur Mündung des Großen Fischflusses segeln. Dort mussten sie für die Flussfahrt umtakeln und konnten bei günstigem Wind aus Nordwesten und dank der Kraft der Ruderer rasch stromaufwärts gelangen. Allerdings gab es dazwischen bestimmt auch Abschnitte, auf denen sie die Boote tragen mussten. Diese wären für ihn mit seinem morschen Bein gewiss nicht leicht zu bewältigen, doch im Vergleich zu dem Alptraum der letzten acht Wochen nur ein Kinderspiel.
Wenn er durchhielt, bis sie in die Boote stiegen, dann konnte Thomas Blanky es schaffen.
Aber der Eislotse hatte ein Geheimnis, das selbst seinen unverbesserlichen Optimismus schwinden ließ: Das Wesen aus dem Eis war hinter ihm her.
Bisher war es fast jeden Tag gesichtet worden, seit sich der Zug langsam an der Küste entlang um das große Kap schleppte.
Meistens erblickten sie es am frühen Nachmittag, wenn sie zurückmarschierten, um die verbliebenen fünf Boote zu holen, und in der Dämmerung um sechs Glasen der Abendwache, wenn sie in ihren nassen Hollandzelten zusammensanken, um einige Stunden Schlaf zu finden.
Das Ungeheuer verfolgte sie. Manchmal erspähten es die Offiziere durch ihre Fernrohre, wenn sie hinaus auf die See blickten. Keiner von ihnen erzählte den Seeleuten in den Schlittengespannen davon, dass sie die Bestie entdeckt hatten. Aber Blanky hatte mehr Zeit zum Nachdenken und Beobachten als die anderen. Er bemerkte, wie sich die Offiziere miteinander besprachen, und wusste Bescheid.
Manchmal konnten diejenigen, die die letzten Boote schleppten, das Ungeheuer auch mit eigenen Augen sehen: ein schwarzer Fleck auf weißem Eis oder ein weißer Fleck auf schwarzem Fels, der sich eine Meile oder weniger hinter ihnen bewegte.
»Das ist nur einer von diesen weißen Polarbären«, hatte der rotbärtige Eislotse James Reid gesagt, der inzwischen eng mit Blanky befreundet war. »Die fressen dich, wenn sie dich kriegen, aber eigentlich sind sie harmlos. Es braucht nur ein paar Kugeln, dann sind sie tot. Hoffen wir, dass er näher kommt. Wir brauchen dringend frisches Fleisch.«
Für Blanky jedoch stand von Anfang an fest, dass das keiner von den Eisbären war, von denen sie schon einige erlegt hatten. Das war das Wesen , das alle Männer fürchteten – vor allem in der Nacht oder vielmehr in den zwei Stunden Dunkelheit, auf die die Nacht inzwischen zusammengeschrumpft war.
Doch nur Thomas Blanky wusste, dass die Bestie es vor allem auf ihn abgesehen hatte.
Der Marsch war an keinem spurlos vorübergegangen, aber für Blanky wurde er zu einer Höllenqual. Nicht wegen des Skorbuts, der ihn weniger stark beeinträchtigte als die meisten anderen, sondern wegen der Schmerzen in dem Bein, dessen untere Hälfte das Wesen zerfleischt hatte. Die Fortbewegung über das Eis und den
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