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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Wort wurde Odysseus von seinen Zeitgenossen bezeichnet und von einigen, wie etwa Achilles, sogar beschimpft. Bridgens nutzte seinen Listenreichtum nicht oder nur selten, um andere zu beeinflussen, sondern eher wie einen jener runden Schilde, mit denen sich die homerischen Helden vor Speeren und Lanzen schützten.
    Er nutzte seinen Listenreichtum, um sich unsichtbar zu machen.
    Einmal auf der fünfjährigen Reise mit der HMS Beagle , bei der er auch Harry Peglar kennengelernt hatte, hatte sich Bridgens Mr. Darwin gegenüber zu einer unvorsichtigen Bemerkung hinreißen lassen. Sie spielten gerade Schach in der winzigen Kajüte
des Naturphilosophen, und Bridgens erwähnte, dass jeder Mann auf einer solchen Fahrt bis zu einem gewissen Grad ein moderner Odysseus war. Der junge Ornithologe mit den traurigen Augen und dem scharfen Verstand musterte den Steward mit einem durchdringenden Blick und erwiderte: »Aber warum kann ich mir bei Ihnen nicht vorstellen, dass zu Hause eine Penelope auf Sie wartet, Mr. Bridgens?«
    Danach verhielt sich der Steward vorsichtiger. Er hatte erfahren  – so wie Odysseus nach mehreren Jahren Wanderschaft –, dass seine Listen der Welt nicht gewachsen waren und dass man für Überheblichkeit stets von den Göttern bestraft wurde.
    In jüngster Zeit fühlte sich John Bridgens – in seinen Einstellungen, seinem Fühlen, seinen Erinnerungen, seinen Erwartungen an die Zukunft und seiner Trauer – besonders einer literarischen Gestalt verbunden: König Lear.
    Und nun war es Zeit für den letzten Akt.
     
     
    Seit zwei Tagen lagerten sie an dem Fluss, der in die namenlose Straße südlich von King-William-Land mündete. An einigen Stellen strömte der Fluss frei dahin, und sie konnten ihre Wasserfässer füllen, doch niemand hatte bisher Fische darin gesehen oder gar gefangen. Kein Tier schien geneigt, dort seinen Durst zu stillen – nicht einmal ein weißer Polarfuchs. Das Beste an diesem Lager war, dass sie durch die leichte Einbuchtung des Flusstales vor dem schlimmsten Wind geschützt waren und während der Nacht für Nacht tobenden Gewitter ein wenig Frieden fanden.
    An beiden Morgen hatten die Männer voller Hoffnung Zelte, Schlafsäcke und Kleidungsstücke, die sie gerade nicht brauchten, auf den Steinen zum Trocknen ausgebreitet. Aber natürlich zeigte sich die Sonne nicht. Mehrere Male ging ein leichter Nieselregen nieder. Der einzige Tag mit blauem Himmel in den letzten eineinhalb Monaten war der letzte Dienstag gewesen, an
dem ihnen Kapitän Crozier verkündet hatte, dass sie die Nordwestpassage entdeckt hatten. Am Abend dieses Tages hatten die meisten Männer wegen ihres Sonnenbrands Dr. Goodsir aufsuchen müssen.
    Als Gehilfe des Arztes wusste Bridgens genau, dass Goodsir nur noch wenige Medikamente in dem Kasten hatte, den er aus den Vorräten seiner toten Kollegen zusammengestellt hatte. In den Beständen gab es noch einige Abführmittel wie Rizinusöl und Jalapentinktur, die aus Windensamen gemacht war. Von den Anregungsmitteln waren nur noch Kampfer und Hirschhornpulver übrig, weil die Lobelientinktur in den ersten Monaten der Skorbutsymptome so reichlich verwendet worden war.
    Als Beruhigungsmittel war noch Opium vorhanden, und zum Stillen von Schmerzen ein wenig Alraunwurzel und Dover-Pulver, das aus Brechwurzel und Kokain bestand. Zur Reinigung von Wunden und zur Behandlung von starkem Sonnenbrand mit Blasen blieben Kupfer- und Bleisulfat. Doch auch dieses hatte Bridgens auf Goodsirs Anweisung hin fast völlig aufgebraucht, um den stöhnenden Männern Linderung zu verschaffen, die beim Rudern ihre Hemden ausgezogen hatten.
    Jetzt gab es keine Sonne mehr, die die Zelte, Schlafsäcke und Kleider getrocknet hätte. Die Körper der Männer waren ständig nass, und in der Nacht zitterten sie vor Kälte und Fieber.
    Erkundungsgänge der gesündesten Schiffsmaaten hatten gezeigt, dass sie auf ihrer Fahrt eine tiefe Bucht keine fünfzehn Meilen nordwestlich des Flusses passiert hatten, an dem sie nun ihr Lager aufgeschlagen hatten. Noch aufregender war jedoch der Bericht der Aufklärer, dass sich die Küste der Insel schon zehn Meilen östlich zurück nach Nordosten bog. Wenn das zutraf, befanden sie sich knapp vor dem Südostzipfel von King-William-Land, dem Punkt auf der Insel, der der Meerenge vor Backs Fluss am nächsten lag.
    Der Große Fischfluss lag jenseits der Wasserstraße, aber Kapitän
Crozier wollte auf King-William-Land weiter mit den Booten nach Osten ziehen,

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