Terror
schimmerten.
Die Männer waren zu erschöpft, um die Schlitten abzuladen und die Kutter und die Pinasse hinaufzuheben. Sie waren zu müde, um die durchnässten Hollandzelte und Schlafsäcke auszupacken.
Wo sie aufgehört hatten, die schweren Boote über das Küsteneis und die glitschigen Steine zu ziehen, brachen sie zusammen.
In Haufen zusammengedrängt schliefen sie und wurden nur von der Körperwärme ihrer Maaten am Leben gehalten.
Crozier teilte nicht einmal Wachen ein. Wenn das Wesen ihnen heute Nacht an den Kragen wollte, dann war es eben so. Bevor er sich hinlegte, brachte er noch eine Stunde mit dem Sextanten und den Navigationstabellen und -karten zu, die er mit sich führte.
Nach seiner Berechnung waren sie fünfundzwanzig Tage auf dem Eis gewesen und hatten dabei ziehend, treibend und rudernd eine Strecke von sechsundvierzig Meilen in ostsüdöstlicher Richtung zurückgelegt. Sie befanden sich wieder auf King-William-Land irgendwo nördlich der Adelaide-Halbinsel und waren weiter von Backs Fluss entfernt als noch vor zwei Tagen: ungefähr fünfunddreißig Meilen nordwestlich der Meerenge, die zur Mündung führte. Selbst wenn sie die unbekannte Straße zwischen King-William-Land und der Halbinsel überwanden, waren sie noch sechzig Meilen von der Flussmündung und insgesamt über neunhundert Meilen vom Großen Sklavensee entfernt, wo ihre Rettung wartete.
Sorgfältig legte Crozier den Sextanten in den Holzkasten und diesen in seinen Beutel aus wasserdichtem Öltuch. Dann warf er eine feuchte Decke aus dem Walboot auf die Steine neben Des Voeux und drei anderen Leuten. In wenigen Sekunden war er eingeschlafen.
Er träumte von Memo Moira, die ihn nach vorn zu einer Altarschranke und einem wartenden Priester in tropfnassen Gewändern drängte.
Während die Männer an dieser unbekannten Küste vor sich hin schnarchten, schloss Crozier im Traum die Augen und streckte die Zunge aus, um den Leib Christi zu empfangen.
50
Bridgens
FLUSSLAGER
29. JULI 1848
S chon immer hatte John Bridgens insgeheim die verschiedenen Abschnitte seines Lebens mit jenen Werken aus der Literatur verglichen, die ihn geprägt hatten.
Als Heranwachsender und Student hatte er sich verschiedene Figuren aus Boccaccios Dekameron und aus Chaucers zotigen Canterbury-Erzählungen zum Vorbild genommen. Und keineswegs alle seine ausgewählten Figuren waren heroisch. Einige Jahre lang lautete sein Lebensmotto: Leckt mich am Arsch!
Als er die zwanzig überschritten hatte, identifizierte sich John Bridgens vor allem mit Hamlet. Er war sich sicher, dass der Jüngling Hamlet im Lauf einiger weniger Theaterwochen auf magische Weise alterte und im fünften Akt mindestens dreißig Jahre zählte. Der sonderbare Prinz von Dänemark war erstarrt zwischen Denken und Handeln, zwischen Motiv und Tat, bestimmt von einem scharfen, unerbittlichen Verstand, der ihn dazu zwang, über alles und jedes nachzudenken, selbst über das Denken. Auch der junge Bridgens wurde solcherart zum Opfer seines eigenen Verstandes und hatte sich wie Hamlet häufig mit der wesentlichsten aller Fragen auseinandergesetzt: Weiterleben oder nicht weiterleben? Bridgens’ damaliger Lehrer, ein eleganter,
aus Oxford verbannter Don und der erste bekennende Sodomit, dem der wissbegierige junge Student begegnete, hatte voller Verachtung darauf bestanden, dass es bei dem berühmten »Sein oder Nichtsein« nicht im Geringsten um Selbstmord ging. Aber Bridgens wusste es besser. »So macht Gewissen Feige aus uns allen« – dieser Satz war John Bridgens direkt aus der Seele gesprochen. Er war unglücklich über seine Existenz und seine unnatürlichen Neigungen, unglücklich, wenn er sich verstellte und wenn er sich nicht verstellte, und vor allem unglücklich darüber, dass er seinem Leben nur in Gedanken ein Ende setzen konnte, weil ihm die Furcht vor einem Weiterleben der Gedanken auf der anderen Seite des Todesschleiers auch in der Frage der Selbstentleibung alle Entschlusskraft raubte.
Allerdings verfügte Bridgens schon als junger, noch nicht ganz reifer Mann neben seiner inneren Zerrissenheit über zwei Dinge, die ihn vor der geistigen Zerrüttung bewahrten: Bücher und einen Sinn für Ironie.
In seinen mittleren Jahren sah sich Bridgens zumeist als Odysseus. Nicht das einsame Durchstreifen der Welt machte diesen Vergleich für den gelehrten Subalternoffizierssteward so passend, sondern Homers Beschreibung des weltmüden Wanderers als »listenreich«. Mit diesem
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