Terror
bis der südöstlichste Ausläufer der Insel erreicht war. Dort sollten sie an einem möglichst hoch gelegenen Ort ihr Lager aufschlagen und die Straße beobachten. Wenn in den nächsten zwei Wochen das Eis aufbrach, würden sie die Boote zu Wasser lassen. Wenn nicht, würden sie sie nach Süden übers Eis zur Adelaide-Halbinsel schleppen und von dort aus die letzten fünfzehn Meilen zur Meerenge marschieren, die zu Backs Fluss führte.
Das Endspiel war schon immer John Bridgens’ große Schwachstelle beim Schach gewesen. Nur selten bereitete es ihm Vergnügen.
Am Abend vor dem geplanten Aufbruch aus dem Flusslager packte er sorgfältig seine persönliche Habe zusammen, unter anderem ein dickes Tagebuch, das er im vergangenen Jahr geführt hatte – fünf längere hatte er am 22. April auf der Terror zurückgelassen. Das Bündel legte er in seinen Schlafsack mit einer Notiz, dass sich die Maaten alles Nützliche teilen sollten. Nachdem er eine Kleiderbürste eingesteckt hatte, die er schon seit vielen Jahren besaß, ging er mit Harry Peglars Tagebuch und Kamm zu Goodsirs kleinem Lazarettzelt, um sich zu verabschieden.
»Sie wollen sich die Beine vertreten und sind vielleicht nicht zurück, wenn wir morgen aufbrechen?« Goodsir sah ihn an. »Was soll dieses Gerede, Mr. Bridgens?«
»Entschuldigen Sie, Dr. Goodsir, ich habe nur den starken Wunsch nach einem Spaziergang.«
»Ein Spaziergang. Wie kommen Sie darauf, Mr. Bridgens? Sie sind dreißig Jahre älter als die meisten anderen Überlebenden dieser Expedition, aber Sie sind zehnmal so gesund.«
»Was die Gesundheit angeht, war ich immer ein Glückspilz«, erwiderte Bridgens. »Alles nur Vererbung, fürchte ich. Mit der Weisheit, die ich vielleicht im Lauf der Jahre erworben habe, hat das gar nichts zu tun.«
»Aber warum …«
»Es ist einfach Zeit für mich, Dr. Goodsir. Ich gestehe, dass es mich zur Bühne gezogen hat, als ich noch jung war. Und einer der wenigen Grundsätze dieses Berufs, die sich mir eingeprägt haben, ist, dass es die großen Schauspieler verstehen, sich einen guten Abgang zu verschaffen, ehe ihr Auftritt das Publikum zu langweilen beginnt.«
»Sie klingen wie ein Stoiker, Mr. Bridgens. Ein Anhänger Mark Aurels. Wenn man das Missfallen des Kaisers auf sich zieht, geht man nach Hause, lässt sich ein warmes Bad ein und …«
»O nein, Sir. Ich habe die Philosophie der Stoiker zwar immer bewundert, aber ich muss zugeben, dass ich mich vor Messern und Schwertern fürchte. Der Kaiser hätte mich bestimmt enthaupten lassen und meine Ländereien beschlagnahmt – bei scharfen Klingen bin ich einfach ein Feigling. Nein, ich möchte nur einen kleinen Abendspaziergang machen. Und vielleicht ein wenig schlafen.«
»›Vielleicht auch träumen?‹«, zitierte Goodsir.
»›Ja, da liegt’s.‹« Die Verzagtheit und Unruhe in der Stimme des Stewards waren echt.
»Glauben Sie wirklich, dass unsere Lage aussichtslos ist?« Der Arzt klang ehrlich interessiert, vielleicht auch ein wenig traurig.
Bridgens schwieg längere Zeit. »Wirklich und wahrhaftig, ich weiß es nicht. Vielleicht hängt alles davon ab, ob vom Großen Sklavensee oder einem anderen Außenposten bereits eine Rettungsmannschaft ausgesandt wurde. Das halte ich durchaus für denkbar, schließlich haben sie seit drei Jahren nichts mehr von uns gehört. Und wenn dem so ist, gibt es auch eine Chance. Wenn uns jemand nach Hause führen könnte, dann ist Kapitän Francis Crozier dieser Mann. Die Admiralität hat seine Fähigkeiten nie richtig zu schätzen gewusst, nach meiner bescheidenen Auffassung.«
»Sagen Sie ihm das doch selbst, Mr. Bridgens. Oder sagen Sie ihm wenigstens, dass Sie uns verlassen. Das sind Sie ihm schuldig.«
Bridgens lächelte. »Das würde ich gerne tun, Dr. Goodsir. Aber wir beide wissen, dass mich der Kapitän nicht gehen lassen würde. Er ist stoisch, denke ich, aber kein Stoiker. Vielleicht würde er mich sogar in Ketten legen, damit ich … weitermache.«
»Ich verstehe. Aber auch mir würden Sie einen großen Gefallen tun, wenn Sie bleiben. In nächster Zeit stehen einige Amputationen an, bei denen ich Ihre ruhige Hand benötige.«
»Es gibt Jüngere, Sir, die Ihnen genauso gut helfen können und eine viel ruhigere – und stärkere – Hand haben als ich.«
»Aber es gibt niemanden mit Ihrer Intelligenz. Niemanden, mit dem ich reden kann wie mit Ihnen. Ich schätze Ihren Rat.«
»Vielen Dank, Dr. Goodsir.« Wieder lächelte Bridgens. »Ich
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