Terror
Unterleutnant Edward Couch, der hinter dem Arzt stand.
»Nein.« Goodsir war so müde, dass er keine Ausflüchte suchen konnte. »Ich muss an den Subalternoffizierssteward Bridgens denken.«
»Bridgens? Warum, er ist doch vor zwei Wochen im Eis verschwun…« Couch verstummte.
»So ist es. Bridgens’ Leiche liegt keine zwölf Marschtage von hier irgendwo in der Nähe des Flusslagers. Und Hickeys großes Gespann bewältigt die Strecke bestimmt um einiges schneller.«
»Gottverdammt«, zischte Couch.
Goodsir nickte. »Ich hoffe nur, dass sie ihn nicht finden. Ich habe John Bridgens sehr gemocht. Er war ein feiner Kerl, der Besseres verdient, als von einem Cornelius Hickey gefressen zu werden.«
Am Nachmittag wurde Goodsir zu einem Treffen gebeten, das unten bei den vier Booten am Strand stattfand, damit es von den Männern, die ihrer Arbeit nachgingen oder in den Zelten dösten, nicht belauscht werden konnte. Neben Kapitän Crozier waren die Unterleutnants Charles Des Voeux, Robert Thomas und Edward Couch, Bootsmannsmaat Johnson, Bootsmann John Lane und Korporal Pearson erschienen. Letzterer war zu schwach zum Stehen und musste sich an die splitterige Wand eines umgedrehten Walboots lehnen.
»Vielen Dank, dass Sie so rasch gekommen sind, Dr. Goodsir«, sagte Crozier. »Wir haben uns hier versammelt, um darüber zu reden, wie wir uns vor einer Rückkehr von Hickeys Leuten schützen können und was wir in den nächsten Wochen unternehmen werden.«
Der Arzt sah den Kapitän erschrocken an. »Sie erwarten doch
nicht, dass Hickey, Hodgson und die anderen hierher zurückkommen?«
Crozier zuckte mit den Achseln. Rings um die Männer wirbelte leichter Schnee. »Vielleicht hat er es immer noch auf David Leys abgesehen. Oder auf die Leichen von Mr. Diggle und Mr. Honey. Möglicherweise sogar auf Sie, Dr. Goodsir.«
Goodsir schüttelte den Kopf und erinnerte sich an die Leichen, die den Weg zum Terror -Lager säumten wie gefrorene Proviantlager.
»Daran haben wir auch schon gedacht«, schaltete sich Des Voeux ein. »Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum Hickey glaubt, dass er es zurück bis zur Terror schafft. Trotzdem werden wir hier im Lager einige Tage lang rund um die Uhr Wache halten. Außerdem soll Bootsmannsmaat Johnson Hickeys Gruppe drei oder vier Tage im Auge behalten – für alle Fälle.«
»Was können Sie über Ihre Patienten berichten, Dr. Goodsir?« Croziers Stimme war völlig erloschen.
Der Arzt zuckte nun seinerseits mit den Achseln. »Mr. Jopson, Mr. Helpman und der Maschinist Thompson haben nur noch wenige Tage zu leben. Bei den anderen Skorbutpatienten weiß ich es nicht genau. Einige von ihnen könnten überleben … den Skorbut, meine ich. Vor allem wenn wir frisches Fleisch für sie finden. Aber von den achtzehn Leuten, die zusammen mit mir im Rettungslager bleiben – Thomas Hartnell hat übrigens freiwillig angeboten, als mein Gehilfe weiterzuarbeiten –, sind höchstens drei oder vier in der Lage, draußen auf dem Eis Robben oder im Inland Füchse zu jagen. Und selbst das nicht mehr lange. Ich würde annehmen, dass meine Patienten spätestens bis zum 15. September verhungert sind. Die meisten wohl schon früher.«
Goodsir ging nicht darauf ein, dass einige vielleicht noch ein wenig länger leben konnten, wenn sie die Toten aßen. Ebenso wenig erwähnte er, dass er für sich beschlossen hatte, nicht zum
Kannibalen zu werden und auch niemandem dabei zu helfen. Die Anweisungen zur Leichensektion am Vortag waren sein letztes Wort zu diesem Thema. Dennoch würde er sich nie ein Urteil über die Männer hier im Lager oder auf dem Marsch nach Süden anmaßen, die in ihrer Not Menschenfleisch zu sich nahmen, um noch einige Tage zu leben. Wenn irgendein Teilnehmer der Franklin-Expedition wusste, dass der menschliche Körper eine sterbliche Hülle und nach dem Entweichen der Seele nur noch Fleisch war, dann der Arzt und Anatom Harry D. S. Goodsir. Es war seine eigene, aus moralischen und philosophischen Gründen getroffene Entscheidung, den Tod nicht durch den Verzehr von Menschenfleisch hinauszuzögern. Er war nie ein besonders guter Christ gewesen, also wollte er wenigstens als guter Christ sterben.
»Es gibt vielleicht eine andere Möglichkeit.« Crozier klang fast, als hätte er Goodsirs Gedanken gelesen. »Ich habe mir heute Morgen überlegt, dass der Trupp, der zu Backs Fluss zieht, noch eine Woche hier warten kann – vielleicht sogar zehn Tage, je nach Wetter – in
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