Terror
wie dieser letzte warme Atemzug aus seiner Brust nach oben stieg, über die zerbrochenen Zähne zischte und durch seinen zuckenden Mund nach draußen strömte, und er erkannte sofort, dass das, was ihn da für immer verließ, nicht sein Atem war, sondern seine Seele.
Das Wesen sog die Luft ein.
Und dann wich es schnaubend zurück und schüttelte den großen Kopf, als wäre es besudelt worden. Wuchtig ließ es sich auf die Vorderpranken fallen und verschwand für immer aus Cornelius Hickeys Gesichtsfeld.
Alles war für immer aus Cornelius Hickeys Gesichtsfeld verschwunden. Vom Himmel fielen die Sterne herab und setzten sich als Eiskristalle auf seine aufgerissenen Augen. Der Schatten des Falken legte sich über ihn wie eine große Finsternis und verschlang, was der Tuunbaq verschmäht hatte. Schließlich brachen Hickeys blinde Augen in der Kälte, ohne dass er noch einmal geblinzelt hätte.
Immer noch saß er in aufrechter Haltung im Heck, die Beine gespreizt, die Stiefel fest auf dem Boden vor dem Haufen Golduhren und den Kleidern, die er den Toten gestohlen hatte, die Hände festgefroren an den Dollborden, die Finger der linken Hand nur wenige Zoll von der geladenen Schrotflinte entfernt.
Spät am nächsten Morgen, noch vor der Dämmerung, kam der Sturm, und ein Heulen zog über den Himmel. Den ganzen Tag und die Nacht über sammelte sich der Schnee in dem klaffenden Mund des Kalfaterersmaats und bedeckte seine dunkelblaue Pijacke, die Seemannsmütze, das angstverzerrte Gesicht und die glasigen Augen mit einem dünnen weißen Leichentuch.
60
Crozier
D as Schöne am Totsein ist, dass es keinen Schmerz und keine Selbstwahrnehmung mehr gibt. Das Unangenehme am Totsein ist, wie er immer schon befürchtet hat, wenn er mit dem Gedanken an Selbstmord spielte und ihn aus ebendiesem Grund wieder verwarf, dass es Träume gibt.
Doch immerhin sind es Träume, die einem nicht gehören.
Crozier schwimmt in einem warmen Meer des Nichtselbst und lauscht den Träumen, die nicht seine sind.
Wenn die analytischen Fähigkeiten seines sterblichen Ichs den Übergang in dieses Schweben nach dem Tod noch erlebt hätten, hätte sich der alte Francis Crozier vielleicht über die Vorstellung des Lauschens auf Träume gewundert. Aber es stimmt tatsächlich, diese Träume sind kein Sehen, wie es früher immer war, sondern fast so, als würde man dem Singsang eines anderen zuhören, auch wenn es nicht um Sprache und Worte geht und auch nicht um Musik und Singen. Zwar kommen in diesem Traumlauschen Bilder vor, doch die Formen und Farben haben keinerlei Ähnlichkeit mit Dingen, die Crozier auf der anderen Seite des Todesschleiers kennengelernt hat. Es ist eine stimmlose, sprachlose Erzählung, die seine Jenseitsträume erfüllt.
Es beginnt mit einem schönen Eskimomädchen namens Sedna. Sie lebt allein mit ihrem Vater in einem Schneehaus weit nördlich der gewöhnlichen Eskimosiedlungen. Die Kunde von der Schönheit des Mädchens verbreitet sich, und mehrere junge Männer nehmen die lange Reise über Eisschollen und ödes Land auf sich, um dem grauhaarigen Vater ihre Ehrerbietung zu erweisen und um Sedna zu werben.
Keiner der Freier jedoch vermag mit seinen Worten oder seinem Aussehen das Herz des Mädchens zu berühren. Als im Spätfrühling das Eis aufbricht, zieht sie allein hinaus auf die Schollen, um der nächsten Schar von mondgesichtigen Verehrern aus dem Weg zu gehen.
All dies geschah zu einer Zeit, als die Tiere noch Stimmen hatten, die die Menschen verstanden. So kommt es, dass einVogelmensch über das sich öffnende Eis fliegt und mit seinem Lied um Sedna wirbt. »Komm mit mir ins Land der Vögel, dort ist alles schön wie mein Lied. Komm mit mir ins Land der Vögel, dort gibt es keinen Hunger, dort wird dein Zelt immer aus den herrlichsten Rentierhäuten sein, dort wirst du auf den weichsten und feinsten Bärenfellen liegen, dort wird deine Lampe immer mit Öl gefüllt sein. Meine Freunde und ich werden dir alles bringen, was dein Herz begehren mag, und du wirst vom heutigen Tage an in unsere prächtigsten und leuchtendsten Federn gekleidet sein.«
Sedna glaubt dem Vogelfreier und vermählt sich mit ihm nach dem Brauch der Echten Menschen. Viele Meilen reist sie mit ihm über Meer und Eis bis zum Land der Vogelmenschen.
Doch der Vogel hat sie belogen.
Ihr Zelt ist nicht aus den herrlichsten Rentierhäuten gemacht, sondern aus stinkenden Fischbälgen zusammengeflickt. Durch die Schlitze bläst ungehindert der Wind
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