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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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schmutzigen Fetzen Stoff?
    Crozier blinzelt im Halbdunkel. Ihm fällt ein, was ihm Dr. Goodsir einmal erklärt hat. Verletzungen, wie man sie in einem Seekrieg oder auch auf einer Expedition erleidet, sind als solche weniger lebensbedrohlich als die anschließend einsetzende Sepsis.
    Langsam schiebt er die Hand von der Brust zur Schulter. Er weiß jetzt wieder, dass Hickey nach den Schrotladungen noch mehrmals mit dem Perkussionsrevolver auf ihn geschossen hat. Wo hat ihn die erste Kugel getroffen? Hier. Crozier ächzt, als seine Finger eine tiefe Kerbe im oberen Bizeps finden. Sie ist mit feuchtem, schlammigem Zeug zugepackt. Der Schmerz der Berührung verursacht ihm Schwindel und Übelkeit.
    Links an einer Rippe ist eine weitere Furche. Es kostet ihn große Anstrengung, die Hand dorthin zu bewegen. Als er die Wunde berührt, stöhnt er laut auf und verliert kurz das Bewusstsein.
    Nachdem er wieder zu sich gekommen ist, wird Crozier klar, dass Silence auch diese Verletzung mit ihrem heidnischen Breiumschlag versorgt hat. Aus den Schmerzen beim Atmen und der
Schwellung an seinem Rücken schließt er, dass die Kugel mindestens eine Rippe gebrochen hat, abgelenkt wurde und dann unter dem linken Schulterblatt stecken geblieben ist. Auch diese Kugel muss sie herausgeholt haben.
    Es dauert endlose Minuten und verbraucht den Rest seiner Kräfte, bis er die Hand zu der schmerzhaftesten Wunde hinabgeführt hat.
    Crozier erinnert sich nicht, einen Schuss ins linke Bein bekommen zu haben. Aber der Schmerz im Muskel knapp unter dem Knie beweist ihm, dass ihn dort eine dritte Kugel getroffen haben muss. Mit bebenden Fingern ertastet er das Einschuss- und das Ausschussloch. Zwei Zoll höher, und die Kugel hätte sein Knie durchschlagen, das Knie hätte ihn das Bein, und das Bein mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben gekostet. Unter dem Wickelverband auf dieser Verletzung kann er Schorf ertasten, doch es scheint kein Blut mehr auszutreten.
    Kein Wunder, dass ich vor Fieber glühe. Ich sterbe gerade an Sepsis.
    Dann überlegt er, dass dieses Glühen vielleicht gar nicht vom Fieber kommt. Unter den Fellen und neben der nackten Lady Silence ist ihm zum ersten Mal wieder richtig warm seit … ja, seit wann eigentlich? Seit Monaten? Seit Jahren?
    Unter großen Mühen schiebt Crozier das Fell ein wenig zurück, das sie beide bedeckt, um sich etwas Kühlung zu verschaffen. Silence bewegt sich, wacht aber nicht auf. Als er sie im fahlen Licht betrachtet, findet er, dass sie aussieht wie ein Kind – vielleicht wie eine der jüngeren Töchter seines Cousins Albert.
    Mit diesem Gedanken und der Erinnerung an ein Krocketspiel auf einem grünen Rasen in Dublin schläft Crozier wieder ein.
     
     
    In ihrem Anorak kniet sie vor ihm, die Hände einen Fuß weit auseinander. Zwischen ihren gestreckten Fingern hüpft eine aus
Tiersehnen oder -gedärmen gedrehte Schnur. Es ist eine Art Fadenspiel für Kinder.
    Mit stierem Blick sieht Crozier zu.
    Aus dem komplizierten Übereinander der Sehnenschnur treten immer wieder zwei Bilder hervor. Das erste besteht aus zwei Dreiecken gleich neben ihren Daumen und zur Mitte hin aus einer Doppelschleife, die eine Art Kuppelspitze zeigt. Für das zweite Bild zieht sie mit der rechten Hand zwei einzelne Schlaufen weit nach außen, die auf der anderen Seite um den Daumen und den kleinen Finger der linken Hand laufen. Das ergibt ein verschlungenes Muster, das aussieht wie eine gezeichnete Figur mit vier ovalen Beinen oder Flossen und einem Schleifenkopf.
    Crozier hat keine Ahnung, was die Bilder bedeuten. Langsam schüttelt er den Kopf, um ihr zu verstehen zu geben, dass er nicht spielen will.
    Mit ihren dunklen Augen starrt ihn Silence lange an. Dann lässt sie das Muster mit einer anmutigen Bewegung ihrer zierlichen Hände zusammenfallen und legt das Fadenspiel in die Elfenbeinschüssel, aus der er immer seine Brühe trinkt. Kurz darauf schlüpft sie durch den Zelteingang hinaus.
    Obwohl ihn die kalte Luft wie ein Schlag trifft, will auch er zur Öffnung kriechen. Er will wissen, wo er sich befindet. Das Krachen und Ächzen von draußen lässt darauf schließen, dass sie auf dem Eis sind – ja vielleicht sogar noch in der Nähe der Stelle, wo er niedergeschossen wurde. Crozier kann nicht im Entferntesten abschätzen, wie viel Zeit vergangen ist, seit er von Hickey in den Hinterhalt gelockt wurde, aber er hofft, dass es erst wenige Stunden oder einen, höchstens zwei Tage her ist. Wenn er sofort aufbricht,

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