Terror
herein und lacht sie aus für ihre Leichtgläubigkeit.
Sie schläft nicht auf den feinsten Bärenfellen, sondern auf jämmerlichen
Walrosshäuten. Es gibt kein Öl für ihre Lampe. Die anderen Vogelmenschen schenken ihr keine Beachtung, und sie muss die Kleider tragen, in denen sie geheiratet hat. Zum Essen bekommt sie von ihrem Gemahl nur kalten Fisch.
Immer wieder hält Sedna ihrem gleichgültigen Vogelgemahl vor, wie sehr sie ihren Vater vermisst, und so erlaubt der Vogel schließlich, dass ihr Vater sie besucht. Dazu muss der alte Mann viele Wochen in seinem zerbrechlichen Boot reisen.
Als ihr Vater ankommt, stellt sich Sedna fröhlich, bis sie allein in dem dunklen, stinkenden Fischzelt sitzen. Weinend erzählt sie ihrem Vater, wie ihr Gemahl sie hintergangen und dass sie Jugend, Schönheit und ihr Glück verloren hat, weil sie den Vogel geheiratet hat statt einen der jungen Männer aus den Reihen der Echten Menschen.
Der Vater ist entsetzt und schmiedet mit Sedna einen Plan gegen ihren Gemahl. Als dieser ihr am nächsten Morgen kalten Fisch zum Frühstück bringt, fallen beide mit der Harpune und dem Paddel aus dem qajaq des Vaters über den Vogel her und töten ihn. Dann fliehen Vater und Tochter aus dem Land der Vogelmenschen.
Tagelang segeln sie nach Süden, um das Land der Echten Menschen zu erreichen. Aber als der Vogelgemahl von seinen Verwandten und Freunden tot aufgefunden wird, sind sie von Zorn erfüllt und kommen mit so lautem Flügelschlag nach Süden geflogen, dass die Echten Menschen sie noch in tausend Meilen Entfernung hören können.
Den Weg, für den Sedna und ihr Vater auf See eine Woche gebraucht haben, legen die zu Tausenden fliegenden Vögel in wenigen Minuten zurück. Wie eine dunkle, wütende Wolke aus Schnäbeln, Krallen und Federn stoßen sie auf das kleine Boot nieder. Das Beben ihrer Schwingen beschwört einen schrecklichen Sturm herauf. Wellen schießen in die Höhe und drohen das kleine Boot zu überschwemmen. Ref 13
Um den Zorn der Vögel zu besänftigen, wirft der Vater seine Tochter als Opfer über Bord.
Doch Sedna klammert sich mit aller Kraft am Boot fest. Ihr Griff ist stark.
Der Vater nimmt sein Messer und schneidet die ersten Glieder ihrer Finger ab. Als sie ins Meer fallen, verwandeln sich diese Fingerglieder in die ersten Wale. Die Fingernägel werden zu weißem Fischbein, wie man es an Stränden finden kann.
Noch immer hält sich Sedna fest. Da schneidet ihr der Vater auch die zweiten Fingerglieder ab.
Auch diese versinken in der See und werden zu Robben.
Sedna lässt nicht los. Als ihr der verängstigte Vater auch noch die letzten Fingerglieder abschneidet, fallen diese auf vorübertreibende Schollen und ins Wasser und werden zu Walrossen.
Als sie anstelle von Händen nur noch krumme Knochenstümpfe hat, die aussehen wie die Krallen ihres toten Vogelgemahls, stürzt Sedna schließlich ins Wasser und sinkt hinab bis auf den Meeresgrund. Dort wohnt sie bis auf den heutigen Tag.
Sedna ist die Herrscherin der Wale, Walrosse und Robben. Wenn sie den Echten Menschen gewogen ist, sagt sie den Tieren, dass sie sich fangen und töten lassen sollen. Wenn sie den Echten Menschen nicht gewogen ist, behält sie die Wale, Walrosse und Robben unten in den dunklen Tiefen, und die Echten Menschen müssen leiden und verhungern …
Gottverdammt, was ist das für ein Blödsinn? Francis Croziers Stimme unterbricht den langsamen Fluss des Traumlauschens.
Und wie auf Kommando setzt der Schmerz ein.
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Crozier
M eine Männer! Er ist zu schwach zum Rufen. Er ist zu schwach, um die Worte auszusprechen. Er ist so schwach, dass er nicht mehr weiß, was diese Silben bedeuten. Meine Männer … Ein Stöhnen dringt aus seiner Kehle.
Sie foltert ihn.
Crozier kommt nicht auf einmal zu sich, sondern nimmt mehrere schmerzhafte Anläufe, um die Augen zu öffnen. Er ringt darum, lose Bewusstseinsfetzen zusammenzuflicken, die sich über Stunden und Tage erstrecken. Immer wieder wird er herausgerissen aus seinem Todesschlaf durch den Schmerz und diese vier hohlen Silben – meine Männer – , bis er schließlich wieder so weit bei Sinnen ist, dass er erkennt, wer er ist, wo er ist und wer bei ihm ist.
Sie foltert ihn.
Die Eskimomädchenfrau, die er als Lady Silence gekannt hat, schneidet ihm wieder und wieder mit einem scharfen, heißen Messer in die Brust, die Arme, die Seite, den Rücken, das Bein. Die Schmerzen wollen nicht enden.
Er liegt neben ihr in einem kleinen Raum. Es
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