Terror
den Tagen und Nächten ihrer Reise hat Crozier viel Zeit zum Nachdenken.
Vielleicht weil er niemanden hat, mit dem er reden kann, oder zumindest niemanden, der ihm eine hörbare Antwort gibt, hat er in den letzten Monaten gelernt, verschiedene Teile seines Verstandes und Herzens in sich sprechen zu lassen, als wären sie voneinander getrennte Seelen mit eigenen Meinungen. Seine ältere, müdere Seele weiß, dass er in jeder Hinsicht ein Versager ist. Seine Leute, die darauf vertraut haben, dass er sie retten wird, sind tot oder in alle Winde verstreut. Sein Verstand hofft zwar, dass einige von ihnen überlebt haben, aber die Seele seines Herzens weiß, dass alle, die im Land des Tuunbaq umhergeirrt sind, nun tot sind und dass ihre Knochen an einer unbekannten Küste oder auf einer öden Eisscholle verwittern. Er hat sie alle im Stich gelassen.
Zumindest kann er ihnen nachfolgen.
Noch immer weiß Crozier nicht, wo er sich befindet. Allerdings vermutet er, dass sie an der Westküste einer großen Insel nordöstlich von King-William-Land überwintert haben, fast auf der gleichen Breite wie das Terror -Lager und die Terror selbst, deren Positionen jedoch gut hundert Meilen westlich liegen. Wenn er zu dem Schiff zurückkehren wollte, das er vor über zehn Monaten aufgegeben hat, müsste er nach Westen über das gefrorene Meer, vielleicht über weitere Inseln, dann über den nördlichen Teil von King-William-Land und schließlich noch einmal fünfundzwanzig Meilen übers Eis wandern.
Aber er will nicht zurück zur Terror.
In den letzten Monaten hat Crozier gelernt, wie man in dieser Wildnis überlebt. Er glaubt, dass er in der Lage ist, den Weg zurück zum Rettungslager und sogar zu Backs Fluss zu finden. Unterwegs kann er jagen und Schneehäuser oder Fellzelte bauen, wenn die unvermeidlichen Stürme heraufziehen. Im Sommer kann er sich auf die Suche nach seinen verstreuten Männern machen, und er ist sicher, dass er Spuren von ihnen finden wird, auch wenn es Jahre dauert.
Wenn er sich für diesen Weg entscheidet, wird ihm Silence folgen, das weiß er, auch wenn dies den Tod von allem bedeutet, was sie ist und wofür sie lebt.
Doch er würde sie nie darum bitten. Wenn er nach Süden marschieren würde, um nach seiner Mannschaft zu suchen, dann nur allein, weil er damit rechnet, dass er auf dieser Suche trotz all seiner neu gewonnenen Fähigkeiten den Tod findet. Wenn er nicht auf dem Eis stirbt, wird er auf dem Fluss eine Verletzung erleiden. Und wenn er unterwegs dieser Verletzung oder Krankheit nicht erliegt, kann es sein, dass er auf feindselige Eskimos oder tief im Süden auf noch wildere Indianer stößt.
Engländer, vor allem Arktisveteranen, reden sich gern ein, dass die Eskimos ein primitives, aber friedfertiges Volk sind, stets geduldig und jedem Streit und Hader abgeneigt. Doch Crozier
hat in seinen Träumen die Wahrheit gesehen: Sie sind genauso unberechenbar wie alle anderen Menschen, versinken oft in Krieg und Mord und in schweren Zeiten sogar in Kannibalismus.
Viel kürzer und verheißungsvoller als der Weg nach Süden wäre der nach Osten. Jagend und Fallen stellend müsste er vor dem Aufbrechen des Packeises im Sommer über die gefrorene See ziehen, dann die Boothia-Halbinsel bis zur Ostküste überqueren und sich von da nach Norden zum Fury Beach oder den alten Expeditionslagern durchschlagen. Dort bräuchte er nur noch auf einen Walfänger oder ein Rettungsschiff zu warten. Die Überlebenschancen auf der Ostroute sind ausgezeichnet.
Aber was ist, wenn er in die Zivilisation zurückkehrt? Nach England. Allein. Dann wird er immer der Kapitän sein, der all seine Männer in den Untergang geführt hat. Auch wenn ihn das unvermeidliche Standgericht freisprechen wird, die Schande wird ihn ein Leben lang begleiten.
Doch nicht diese Erwägungen halten ihn davon ab, nach Osten oder Süden zu ziehen.
Die Frau neben ihm trägt sein Kind unter dem Herzen.
Von den vielen Aspekten des Versagens im Lauf seines Lebens ist es sein Versagen als Mann, das ihn am meisten quält.
Er ist fast dreiundfünfzig Jahre alt und hat bisher nur einmal wirklich geliebt – hat einer verzogenen, gemeinen Göre einen Heiratsantrag gemacht, die ihn zum Narren hielt und ihn zu ihrem Vergnügen benutzte wie ein Seemann ein Hafenflittchen.
Jeden Morgen und oft auch nachts erwacht er neben Silence, nachdem er an ihren Träumen teilgehabt hat, so wie sie an den seinen, und spürt ihre Wärme, spürt, wie er auf diese Wärme
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