Terror
stürzen.
Würde Silence mit ihm kommen? Würde sie das Starren und Lachen der Seeleute und das noch schonungslosere Starren und Flüstern der »zivilisierten« Amerikaner in New York oder einer Stadt in New England ertragen? Würde sie ihre Pelze gegen Kattunkleider und Fischbeinkorsette eintauschen, in dem Wissen, dass sie in diesem fremden Land immer eine Fremde bleiben wird?
Ja, sie würde das alles auf sich nehmen.
Für Crozier besteht daran nicht der geringste Zweifel.
Sie würde ihm nach Amerika folgen. Und dort sterben – schon bald. An ihrem Elend, an der Fremdheit und an all den gehässigen, kleinlichen, unbekannten, ungezügelten Gedanken, die in sie hineinströmen würden wie das Gift, das aus den Goldner-Konserven in Fitzjames eindrang: unsichtbar, bösartig, tödlich.
Auch das weiß er.
Aber Crozier könnte seinen Sohn in Amerika großziehen und
in diesem halbwegs zivilisierten Land ein anderes Leben führen, vielleicht sogar als Kapitän eines privaten Segelschiffs. Als Kapitän der Royal Navy und Arktisforscher, als Offizier und Gentleman, der er ohnehin nie war, hat er völlig versagt, doch das braucht in Amerika ja niemand zu erfahren.
Allerdings würde ihn ein Segelschiff an Orte führen, wo man ihn vielleicht kennt. Wenn ihn ein englischer Navy-Offizier entdeckt, wird er als Deserteur aufgeknüpft. Also eher ein kleines Fischerboot, das aus einem kleinen Hafenort in New England ausläuft, und eine amerikanische Frau, die mit ihm sein Kind aufzieht, nachdem Silence gestorben ist …
Eine amerikanische Frau?
Crozier blickt hinüber zu Silence, die sich neben ihm ins Geschirr stemmt. Das purpurne, rote, violette und weiße Polarlicht huscht über ihre vermummte Gestalt. Sie sieht ihn nicht an. Aber er ist sicher, dass sie weiß, was er denkt. Und wenn sie es noch nicht weiß, wird sie es nachher erfahren, wenn sie sich zum Schlafen hinlegen und träumen.
Er kann nicht zurück nach England. Und auch nicht nach Amerika.
Aber dann …
Mit einem Schaudern zieht er die Kapuze ins Gesicht, damit sich die Wärme seines Atems und Körpers besser in dem Eisbärfell fängt.
Francis Crozier ist nicht gläubig. Das Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz. Es hat keine tiefere Bedeutung, keinen Zweck, keine verborgenen Geheimnisse, die für die nur allzu offensichtliche Qual und Banalität entschädigen. Nichts, was er im letzten halben Jahr erfahren hat, hat ihn zu einem Sinneswandel bewegen können.
Oder?
Gemeinsam ziehen sie den Schlitten weiter hinaus auf die gefrorene See.
Am achten Tag halten sie an. Hier sieht es nicht anders aus als auf dem Packeis, das sie in der vergangenen Woche überquert haben: ein wenig flacher vielleicht, weniger große Eisbrocken und Pressrücken, aber dennoch nur Packeis. In der Ferne erkennt Crozier einige kleine Polynjas, deren dunkles Wasser sich wie fehlerhafte Stellen im sonst makellosen Weiß abzeichnet. Im Eis haben sich mehrere kleine Rinnen gebildet, die nirgendwohin führen. Man könnte fast glauben, dass sich das Eis in diesem Jahr zwei Monate zu früh öffnet. Doch Crozier hat dieses scheinbare Tauwetter schon oft erlebt, aus Erfahrung weiß er, dass mit dem richtigen Aufbrechen des Packeises nicht vor Ende April zu rechnen ist.
Jetzt allerdings haben sie offene Wasserstellen und Robbenatemlöcher in Hülle und Fülle, ja vielleicht sogar die Möglichkeit, Walrosse oder Narwale zu jagen, falls sich welche zeigen. Aber Silence hat kein Interesse an der Jagd.
Beide legen das Geschirr ab und blicken sich um. Sie haben in der Mittagszeit angehalten, in der im Süden kurzes Zwielicht herrscht.
Silence tritt vor Crozier. Sie zieht ihm die Fäustlinge aus und streift ihre eigenen ab. Der Wind ist bitterkalt, ihre Hände dürfen nicht länger als eine Minute unbedeckt sein. In dieser Minute hält sie seine Hände fest in ihren und sieht ihn an. Sie wendet den Blick nach Osten, dann nach Süden und schließlich wieder zu ihm.
Die Frage ist klar.
Crozier spürt das Pochen seines Herzens. Er kann sich nicht erinnern, in seinem Leben als Erwachsener jemals solche Angst gehabt zu haben.
»Ja.«
Silence zieht ihre Fäustlinge wieder an und macht sich daran, den Schlitten abzuladen.
Während ihr Crozier hilft, die Vorräte aufs Eis zu stellen und dann den Schlitten zu zerlegen, fragt er sich erneut, wie sie diesen
Ort gefunden hat. Er weiß inzwischen, dass sie sich zwar manchmal nach den Sternen und dem Mond richtet, sich aber
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