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Terror

Terror

Titel: Terror Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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meistens an der Landschaft orientiert. Selbst auf scheinbar kargem Terrain zählt sie die vom Wind mit mathematischer Präzision geschliffenen Schneekämme und -hügel und prägt sich ein, in welcher Richtung diese Formationen verlaufen. Wie Silence hat sich Crozier daran gewöhnt, die Zeit nicht nach Tagen zu zählen, sondern nach Schlafen und Wachen. Entscheidend ist, wie oft sie zum Schlafen anhalten, nicht die Uhrzeit.
    Hier draußen auf dem gefrorenen Meer hat er, Silence’ Beispiel folgend, ein zuverlässiges Gespür für die feinen Unterschiede zwischen Scholleneis, altem Wintereis, neuen Pressrücken, dickem Packeis und gefährlichem Neueis entwickelt. Inzwischen erkennt er eine Rinne schon aus vielen Meilen Entfernung allein an der leichten Verdunklung der Wolken über dieser Stelle. Ganz selbstverständlich vermeidet er gefährliche, fast unsichtbare Sprünge und morsches Eis.
    Aber was hat sie hierher geführt? Woher hat sie gewusst, dass dies der richtige Ort für unser Vorhaben ist?
    Sein Herz klopft noch wilder. Noch ist es nicht so weit.
    Im rasch verblassenden Licht bauen sie aus mehreren Streben und Stangen des Schlittens ein grobes Gerüst für ein kleines Zelt. Sie wollen nur einige Tage bleiben – es sei denn, Crozier bleibt für immer. Also suchen sie nicht nach einer geeigneten Wehe, um darin ein Schneehaus zu bauen, und geben sich auch keine Mühe, das Zelt schön zu gestalten. Sie brauchen nur ein Dach über dem Kopf.
    Einige Felle werden als Außenwände angebracht, die meisten kommen ins Zelt. Während Crozier die Bodenpelze und Schlafdecken zurechtlegt, schneidet Silence draußen Eisstücke aus einem größeren Brocken in der Nähe, um an der Windseite des Zelts eine niedrige Mauer zu errichten. So sind sie einigermaßen geschützt.

    Drinnen hilft sie Crozier, die Öllampe und das Geweihgestell im vorderen Teil des Zelts anzubringen. Dann schmelzen sie Schnee zum Trinken. Später werden sie über der Lampe und dem Gestell auch ihre Kleider trocknen.
    Der Wind umweht den leeren Schlitten, der jetzt fast nur noch aus Kufen besteht.
    Drei Tage lang fasten sie beide. Sie essen nichts, trinken nur Wasser, um das Knurren der Mägen zu beruhigen. Zwischen den Schlafzeiten halten sie sich lange draußen auf, auch wenn der Schnee heranweht, um sich zu bewegen und ihre Spannung abzubauen.
    Ab und an wirft Crozier Harpunen und Lanzen auf einen großen Brocken aus Schnee und Eis. Diese Waffen hat Silence nach dem Massaker an ihren Verwandten mitgenommen. Schon vor Monaten hat sie für ihn und sich jeweils eine schwere Harpune mit einer langen Schnur sowie eine leichtere Wurflanze hergerichtet.
    Jetzt schleudert er die Harpune mit solcher Wucht, dass sie sich zehn Zoll tief in den Eisblock bohrt.
    Silence kommt zu ihm und nimmt die Kapuze ab. Im wechselnden Schein des Polarlichts mustert sie ihn eindringlich.
    Er schüttelt den Kopf und bemüht sich um ein Lächeln.
    Man muss doch vorbereitet sein auf seinen Feind. Er hat keine Ahnung, wie er diesen Satz durch Zeichen ausdrücken soll. So begnügt er sich mit einer unbeholfenen Umarmung, um ihr zu versichern, dass er nicht weggehen will und auch nicht vorhat, irgendjemanden mit der Harpune anzugreifen.
     
     
    Noch nie hat er ein solches Polarlicht gesehen.
    Tag und Nacht fallen die farbigen Faltenwürfe von Horizont zu Horizont, doch am heftigsten zuckt und tanzt es direkt über ihnen. In all den Expeditionsjahren am Nord- und Südpol hat
Crozier noch nie etwas erlebt, was dieser Explosion aus Licht nahegekommen wäre. Selbst der fahle Tagesschein, der mittlerweile eine Stunde währt, nimmt dem himmlischen Schauspiel kaum etwas von seiner Kraft.
    Auch die akustische Begleitung ist beeindruckend. Ringsherum stöhnt und ächzt und mahlt das zusammengeschobene Eis. Darunter steigert sich verstreutes Artilleriefeuer rasch zu einem unaufhörlichen Kanonendonner.
    Ohnehin schon zermürbt von der Angst vor dem Kommenden, empfindet Crozier das Krachen und die Bewegungen des Packeises unter ihnen als unaufhörliche Bedrohung. Obwohl er schwitzt, schläft er in seinem Anorak und stürzt in jeder Schlafphase fünfmal aus dem Zelt, weil er glaubt, dass ihre Scholle auseinanderbricht.
    Doch sie bricht nicht auseinander, wenngleich in einem Umkreis von fünfundzwanzig Faden um ihr Zelt Sprünge entstehen und sich schneller, als ein Mensch laufen kann, durch scheinbar festes Eis verästeln. Dann schließen sich die Risse wieder und verschwinden. Das Knallen geht

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