Terror
reagiert. Jeden Tag ziehen sie hinaus aufs Eis und kämpfen gemeinsam um ihr Leben. Dank Silence’ Kunstfertigkeit können sie
anderen Seelen nachstellen und sie essen, damit ihre beiden Lebensgeistseelen noch ein wenig länger Bestand haben.
Sie trägt unser Kind unter dem Herzen. Mein Kind.
Für die Entscheidung, die er in den nächsten Tagen zu treffen hat, spielt allerdings nicht einmal das eine Rolle.
Mit fast dreiundfünfzig Jahren soll er auf einmal an etwas glauben, und noch dazu an etwas derart Absurdes, dass er eigentlich allein bei dem Gedanken in Lachen ausbrechen müsste. Wenn er die Fäden und die Träume richtig verstanden hat – wovon er nun nach langen Zweifeln endlich überzeugt ist –, soll er etwas tun . Etwas Schmerzliches und Schreckliches, das ihn den Verstand, wenn nicht gar das Leben kosten kann.
Er muss daran glauben , dass dieser Irrsinn, der jedem menschlichen Fühlen widerspricht, das Richtige ist. Seine Träume und die Liebe zu dieser Frau sollen ihn dazu bewegen, die ein Leben lang geübte Rationalität aufzugeben und sich zu verwandeln.
In was zu verwandeln?
In einen anderen.
Während er unter einem Himmel voll heftig brodelnder Farben neben Silence dahinstapft, hinter sich das Gewicht des Schlittens, ruft er sich ins Gedächtnis, dass Francis Crozier noch nie an etwas geglaubt hat.
Wenn überhaupt, dann glaubt er nur an »Leviathan« von Thomas Hobbes.
Das Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz.
Kein rational denkender Mensch kann das abstreiten. Und trotz seiner Träume, seiner Kopfschmerzen und des sonderbaren neuen Willens zum Glauben bleibt Crozier ein rationaler Mensch.
Wenn ein Mann im Hausrock vor dem Kaminfeuer seiner Bibliothek begreifen kann, dass das Leben einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz ist, wie sollte sich dann jemand dieser
Erkenntnis verweigern, der unter dem tobenden Himmel der arktischen Nacht einen mit Fleisch und Pelzen beladenen Schlitten über eine namenlose Insel zieht, einem gefrorenen Meer entgegen, das Tausende von Meilen von jeder Zivilisation entfernt ist?
Einem Schicksal entgegen, dessen Grausamkeit sich jeder Vorstellung verschließt.
Am fünften Tag ihres Marsches gelangen sie ans Ende der Insel, und Silence führt sie nach Nordosten hinaus aufs Eis. Wegen der Pressrücken und veränderlichen Schollen kommen sie nur mühsam voran. Außerdem müssen sie langsam gehen, um den Schlitten nicht zu beschädigen. Mit ihrem Trankocher tauen sie Schnee zum Trinken auf, doch trotz der vielen Atemlöcher, auf die Silence unterwegs deutet, machen sie nicht halt, um frisches Wild zu jagen.
Inzwischen bleibt die Sonne jeden Tag eine halbe Stunde am Himmel. Ansonsten hat Crozier keine Ahnung, wie spät es ist. Seine Uhr ist zusammen mit seinen Kleidern verschwunden, seit Hickey auf ihn geschossen und Silence ihn gerettet hat. Wie sie ihn gerettet hat, hat sie ihm bis heute nicht erzählt.
Damals bin ich zum ersten Mal gestorben.
Und jetzt soll er wieder sterben – als der, der er war, um ein ganz anderer zu werden.
Wie viele Menschen bekommen solch eine zweite Chance? Und wie viele Kapitäne, die erlebt haben, wie einhundertachtundzwanzig Männer ihrer Expedition sterben oder verschwinden, würden sich eine solche Chance wünschen?
Ich könnte verschwinden.
Jeden Abend, wenn er sich auszog, um unter die Schlafdecken zu kriechen, hat Crozier die zahllosen Narben auf seinem Arm, seiner Brust, seinem Bauch und seinem Bein betrachtet. Sie könnten ihm als Rechtfertigung dafür dienen, dass er sein Leben lang nie wieder ein Wort über seine Vergangenheit verliert.
Er kann Boothia durchqueren, dort in den wärmer werdenden Gewässern vor der Ostküste jagen und fischen, sich vor der Royal Navy und anderen englischen Rettungsschiffen verstecken und auf einen amerikanischen Walfänger warten. Und wenn es zwei, drei Jahre dauert, bis einer kommt. So lange kann er sich durchschlagen, da ist er sich ganz sicher.
Und statt nach England zurückzukehren, das ohnehin nie eine Heimat für ihn war, kann er seinen amerikanischen Rettern erzählen, dass er das Gedächtnis verloren hat und nicht mehr weiß, zu welchem Schiff er gehörte. Als Beweis kann er seine Narben vorweisen und dann am Ende der Walfangzeit einfach mit nach Amerika fahren, um dort ein neues Leben zu beginnen.
Wie viele Menschen haben die Möglichkeit, in seinem Alter noch einmal ganz von vorn anzufangen? Etliche würden sich auf diese Gelegenheit
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